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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Kamille ihre warmen Düfte. Kleine, blitzende Käfer summten. Unterhalb der Klippen dehnte sich das spiegelglatte Meer. Die Steinblöcke, in betonter Verbundenheit mit Himmel und Erde, erhoben sich unversehrt aus den alten Ruinen. Sie waren grau, von ursprünglicher Nacktheit und wahrhaft gewaltig. Der Ort war erfüllt von Stimmen und Geistern. Sie flüsterten, längst zeitlos geworden, im Wind und in den Höhlungen der Steine, wo Ameisen krabbelten und Eidechsen huschten.
    »Es ist wirklich außergewöhnlich.« Kazuos Stimme klang verhalten, wie besorgt, die Stille durch allzu laute Worte zu gefährden. »Wie hoch war der Tempel ursprünglich?«
    »Zehn Meter oder höher. Er wurde dreitausend Jahre vor Christus erbaut und mit Steinquadern überdacht. Luftaufnahmen zeigen, dass als Vorlage für die Anordnung der Kammern die weibliche Gebärmutter diente.«
    »Stimmt, die Anlage hat etwas Organisches an sich. Ihr fehlt die übliche Geometrie.« Kazuo legte die Hand auf eine Säule. »Kalkstein!«
    Ich nickte.
    »Alle Säulen trugen Ornamente in Form von Wirbeln. Die Farben waren Schwarz oder Rostrot, an manchen Stellen sieht man sie noch. Die Wirbel stellten die Beziehung zur Wasserwelt dar.«
    »Und diese Löcher!«, sagte Kazuo. »Absolut kreisrund! Im Irak habe ich ähnliche gesehen. Sie wurden in den Stein gebohrt.«
    »Ja, aber mit welchen Werkzeugen?«
    »In dem Punkt jedenfalls ist man sich einig: Keiner weiß, wie sie gemacht wurden.«
    »Ein astronomischer Kalender?«
    »Das ist eine einfache und relativ weit verbreitete Annahme. Die Löcher wurden so angebracht, dass die Sonne je nach Jahreszeit eine andere Kammer beleuchtet. In neolithischen Bauten findest du das oft. Trotzdem bin ich mir da nicht so sicher ... «
    »Warum nicht?«
    »Weil die Vergangenheit keine Illustration des Verstandes ist, sondern stets etwas Unbegreifliches zum Ausdruck bringt. Und im Grunde bedeutet eine Antwort auch wenig.« »Vielleicht hast du recht«, sagte ich. »Komm!«
    Wir stiegen über das Seil, das die Ruinen vor dem Ansturm der Besucher bewahrte, wanderten von einer Kammer in die andere, bis ich vor einer Säule Halt machte.
    »Hier befand sich wohl einmal das Heiligtum. Stell dich mal
    vor die Säule. Nein, etwas mehr nach rechts. Siehst du was?«
»Es kann sein«, sagte er, »dass ich ein Gesicht sehe.«
    »Du gehst einen Schritt zur Seite, und weg ist es! Wahrscheinlich durfte es nur von der Priesterin gesehen werden.« Er antwortete nachdenklich.
    »Ob es überhaupt ein menschliches Gesicht ist?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Weil es mich an die Statuen der Hethiter erinnert, an die Prozessionen von Yazilikaya, in den Fels einer türkischen Bergschlucht geschlagen. Menschen, die zur Hälfte Löwen sind.« »Hier wurden auch Tieropfer gebracht«, sagte ich. »Aus den
    verbrannten Knochen lasen die Priesterinnen Orakel.« »In Japan doch auch!«, sagte er.
    Ich blickte ihn überrascht an.
    »Ist das wahr?«
    »In der Jomon-Zeit, neun Jahrtausende vor Christus, verkörperten die Priesterinnen die Macht der Mutter Erde. Sie besaßen astronomische Kenntnisse, heilten Krankheiten, bestimm ten den Zeitpunkt der Aussaat und der Ernte. Sie waren Hüte rinnen des Feuers, das als göttliches Element aus dem Reiben des Stabes und des Holzstückes hervorgebracht wurde. Zu den wesentlichen Riten gehörte auch, dass sie das Schulterblatt eines Damhirsches verbrannten und in den Linien der Asche die Zukunft lasen.«
    »Warum war das so?«, fragte ich.
    »Weil die Knochen die Ahnen verkörperten. In früheren Zeiten, so glaubten wir jedenfalls, gab es zwischen Menschen und Tieren keinen Unterschied.«
    »Nun, vielleicht stimmt das sogar?«
    Er lachte ein wenig.
    »Ich habe großes Glück, dass ich endlich einen Menschen getroffen habe, der sich nicht darüber wundert.«
    Wir wanderten Seite an Seite, sprachen zueinander mit großem Einverständnis. Kazuo sagte:
    »Die Kraft eines Ortes wächst aus den Vorfahren, Menschen und Tieren, die dort begraben wurden. Welche Kraft? Zweifellos diejenige, die Paracelsus beschwor, als er schrieb: >Wir befinden uns noch alle im Stadium der Schöpfung. Wir sind Erde, die noch bestellt werden muss.‹ Tut mir leid«, setzte er leicht verlegen hinzu. »Ich bin ein Pedant. An manchen Tagen hasse ich mich dafür.«
    »Du hast einfach ein gutes Gedächtnis.«
    »Du bist sehr nachsichtig. Sag mal, hast du manchmal Vorahnungen? «
    Ich versteifte mich innerlich. »Ich weiß es nicht. Na gut, meinetwegen!

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