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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Vorteile. Wir wenden viel Scharfsinn und Phantasie im Leben an. Routinedenken schränkt die positive Intelligenz ein. Das ist auf der ganzen Welt so. Meinen Sie nicht auch?«
    »Wie es in Japan ist, weiß ich nicht sehr genau«, sagte ich. »Wir waren nur ein paar Tage in Tokio.«
    »Wann war das?«
    »Vor vier Jahren.«
    »Inzwischen hat sich Tokio sehr verändert.«
    »Danach gingen wir nach Okinawa. Dort blieben wir etwas länger als beabsichtigt. Das Meer war sehr schön.«
    »Inzwischen hat sich wenig verändert«, meinte er. »Das Meer ist immer noch schön.«
    Ich rief den Kellner, bestellte zum Nachtisch eine luftige Mandelcreme, passend zur heißen Jahreszeit. Erst dann sprach ich weiter.
    »Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß nicht, ob ich noch religiös bin. Ich stelle lieber Arbeitshypothesen auf.«
    »Das ist aber auch gut«, sagte er lächelnd. »Auf diese Weise entgeht man geistigem Schiffbruch!«
    Ich verzog das Gesicht.
    »Intellektueller Schiffbruch wird zuallerletzt von den Schiffbrüchigen selbst bemerkt. Kreuzritter, Inquisition, Johanniterorden, Prälaten und Nonnen belasten mein Unterbewusstsein. Die Brühe liegt mir schwer im Magen.«
    »Man hat mir oft vorgeworfen«, sagte er, »dass ich meine Mitmenschen mit sehr unjapanisch direkten Fragen vor den Kopf stoße. Es tut mir leid. Wir brauchen uns nicht über Dinge zu unterhalten, die Ihnen unangenehm sind.«
    Ich widersprach.
    »Es ist mir nicht unangenehm. Mit meinem Vater kann ich nicht darüber reden. Eigentlich komme ich nur gut mit ihm aus, weil wir uns höflich aus dem Weg gehen.«
    Jetzt lachte er herzlich.
    »Möglicherweise ist das die richtige Einstellung.«
    Ich erzählte weiter.
    »Meine Mutter hatte Polyarthritis. Sie lag im Sterben und sah die Dinge wieder wie ein Kind. Sie sagte, dass Gott sie jetzt erwarte und Ähnliches. Du meine Güte, dachte ich, glaubt sie das wirklich? Bis ich merkte, dass dieser Glaube ihr guttat. Sie klammerte sich an die Kraft, die wir Gott nennen, weil es wohl keinen passenderen Namen dafür gibt.«
    Er nickte.
    »Kommt der Tod, setzt die Bedrohung ein, und wir brauchen eine sichere Verankerung. Gott ist nur der Alltagsname für die Kräfte aus der Luft, aus dem Meer, aus der Erde. Ich jedenfalls empfinde es so.«
    Ich überdachte das, was er gesagt hatte. Und plötzlich war es, als ob die Welt still stand. Mit einem Mal überkam mich ganz intensiv ein Gefühl für die Beschaffenheit der Dinge. Ich sah die weiße Tischdecke mit den Brotkrümeln und dem Tomatenfleck, roch das Aroma des Kaffees, den wir auf italienische Art – ohne Milch und mit viel Zucker – tranken. Es war, als ob sich etwas vollzogen hätte, eine Art Vorwärtsbewegung in Zeit und Raum. Ein paar Sekunden sah ich nichts anderes mehr als diesen Mann mir gegenüber, dessen Augen mir sagten: Ich versteh dich. Und wenn meine Worte irgendeinen Wert besaßen, so verdankten sie es diesem Blick. Dann glitt die Welt zurück an ihren Platz. Ich sah auf die Uhr und lächelte ihn an.
    »Kommen Sie! Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

15. Kapitel
    V alletta lag diesig im Nachmittagslicht. Rund um die Fußgängerzone wehte Staub, brauste Motorenlärm. Wir waren eingekeilt in eine lange Prozession von Verkehrsmitteln, die mit der hierorts üblichen Nonchalance ohne Warnung nach rechts oder links abbogen. Ich bemerkte Kazuos starren Gesichtsausdruck und lachte.
    »Mach die Augen zu, wenn dir wohler dabei ist!«
    Wir waren mittlerweile vom »Sie« zum »Du« übergegangen. »Im Grunde«, seufzte er, »möchte ich den Crash lieber kommen sehen.«
    Ich versuchte ihn zu beruhigen.
    »Es sieht nur so dramatisch aus, weil wir Klapperkisten fahren. Mein Wagen ist auch zehn Jahre alt.«
    »Wohin fahren wir eigentlich?«
    »Nach Hagar Qim. Ich zeige dir einen Steinzeittempel. Es gibt einige in der Gegend, aber der gefällt mir am besten. Und um diese Zeit sind die Touristen schon weg. «
    Tatsächlich fanden wir einen fast leeren Parkplatz, und der Wächter an der Kasse sah zweifelnd auf die Uhr. Kazuo zeigte ihm seinen Presseausweis, und ich setzte mein schönstes Lächeln auf, sagte ein paar Worte zur Ruhe der Stätte und zu unserem Bedürfnis nach Beschaulichkeit. Der Wächter meinte daraufhin, wir könnten wohl etwas länger bleiben, müssten aber gehen, sobald es dunkel würde.
    Die letzten Touristen verließen den Ort, während wir dem Tempel entgegenwanderten. Der Weg war steinig und ziemlich weit. Mit dem nahenden Abend entfalteten Salbei, Thymian und

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