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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Der Wagen kletterte eine Anzahl Hügel empor. Die Straße war nicht sehr gut. Ginster und gelb gewordene Akazien wuchsen dicht und dornig. Eine Schiffssirene ertönte in der Ferne. Das Meer war immer da, ein dunkelblauer Rand, der den Horizont säumte.
    Nach der letzten Bushaltestelle fuhren wir eine lange Asphaltstraße empor, breit und seltsam leer. Links und rechts lagen unordentlich aufgeschichtete Steinplatten, aber kein Arbeiter war in Sicht. Gelegentlich zogen Lastwagen vorbei, beladen mit Waren oder Baumaterial. Sie wirbelten Staubschleier auf, die im Sonnenlicht flimmerten. Eine Weile fuhr ich eine lange Mauer aus Sandstein entlang, bis ich vor einem großen Gittertor hielt.
    »Wir sind da«, sagte ich. »Und das Tor ist offen.«
    Ich fand einen schattigen Platz für meinen Wagen. Wir stiegen aus und gingen durch das Tor. Hinter der Mauer lag der Friedhof still und verlassen da. Nur der Wächter wanderte mit einem Gartenschlauch zwischen den Gräbern, hielt dann und wann an, um den Blumen Wasser zu geben. Die Erde duftete frisch und herb, und das Zwitschern unsichtbarer Vögel erfüllte die Luft. Alle Gräber trugen die Namen der Soldaten der britischen Navy, die in den zwei Weltkriegen gefallen waren. Manche waren aus Sandstein, andere aus Marmor, mit Statuen, Kreuzen und Kerzenhaltern geschmückt. Wir lasen die Namen der Gefallenen; zum ersten Mal kam mir zu Bewusstsein, wie jung diese Menschen gestorben waren.
    »Mein Gott!«, sagte ich leise, »die waren ja kaum älter als zwanzig!«
    »In Japan war es nicht anders«, sagte Kazuo. »Man wollte uns weismachen, dass alle, die in den Krieg zogen, von ihrer Sache überzeugt waren. Tatsächlich waren es die wenigsten.«
    »Mein Großonkel liegt dort unter dem Baum«, sagte ich.
    Wir blieben im Schatten stehen. Das Grab war sehr schlicht. In den Stein waren nur das Malteserkreuz eingraviert, der Name Gaetano Sforza-Richards sowie Geburts- und Todesjahr: 1894–1917. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Das Grab wirkte so verlassen! Unkraut wuchs, und zwischen den Kieseln war ein alter Blumentopf zersprungen und umgefallen.
    »Es tut mir leid«, sagte ich entschuldigend. »Ich bin eben jahrelang nicht mehr hier gewesen.«
    Ich bückte mich, las die Scherben auf und brachte sie in den Abfall. Dann ging ich zurück zu Kazuo, der still gewartet hatte.
    »Das Geschoss traf das Schiff genau unter der Brücke. Die Explosion fegte Gaetano über Bord. Ich kenne die Umstände nicht, jedenfalls wurde er mit zerfetzten Gliedmaßen geborgen. Weil alle Krankenhäuser überfüllt waren, wurde er zu Hause gepflegt. Man hatte ihm beide Beine und die linke Hand amputiert. Er starb an Wundfieber. Es war wahrscheinlich besser für ihn.«
    »Hatte er noch Geschwister?«
    »Ein Bruder, der später die Bankgeschäfte des Vaters übernahm. Und jene jüngere Schwester eben, für die er die Muschelseide in Auftrag gab. Nach Gaetanos Tod brachte sie ein uneheliches Kind, eine Tochter, zur Welt, bevor sie an den Folgen der Geburt starb. Die Familie versuchte die Sache zu vertuschen. Die Tochter, Francesca – meine Großtante also –, verließ Valletta mit achtzehn, lebte im Ausland und kam erst vor ein paar Wochen zurück. Sie wurde Malerin, eine berühmte sogar.«
    »Malt sie noch immer?«
    »Als ob ihr Leben davon abhinge. Sie plant noch eine Ausstellung. Mit neunzig, stell dir das mal vor! Inzwischen schüchtert sie meinen Vater gewaltig ein. Sie ist eine schwierige alte Dame. Mich mag sie, zum Glück. Sonst hätte ich mir längst eine Wohnung gesucht.«
    Der Friedhofswächter schlurfte näher. Ich grüßte und fragte ihn auf Malti nach der japanischen Grabsäule. Der Wächter, ein alter Mann mit verwaschenen blauen Augen, streckte seine magere, sonnengebräunte Hand aus.
    »Dort drüben«, sagte er. »Kommen Sie!«
    Er schlurfte auf einem Pfad weiter und geleitete uns in der Nähe der Friedhofsmauer bis zu einer ziemlich großen Grabsäule aus rötlichem Marmor. Einige Stufen führten zu dem viereckigen Sockel, auf dem mit Goldprägung eine große Anzahl japanischer Schriftzeichen eingetragen waren. Als ich die Säule sah, kam mir in den Sinn, dass ich sie als Kind tatsächlich bemerkt haben musste. Kazuo stand lange davor; seine Lippen bewegten sich lautlos. Es herrschte vollkommene Stille. Auch die Vögel schwiegen. Nicht einmal der Wind bewegte die Zweige. Nach einer Weile zog Kazuo einige japanische Münzen hervor, legte sie vor der Grabsäule zu den anderen Münzen, die bereits

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