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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Stimme war voller Nachsicht. In der Seele dieses Mannes musste ein großes Verständnis sein. Ich seufzte aufgebracht.
    »Ich kann nicht mit ihr darüber reden. Sie arbeitet den ganzen Tag, kommt nur zum Essen und kritisiert, was ihr nicht passt. Und sie sieht Gespenster.«
    »Gespenster?«
    »Sie sieht ihre verstorbene Mutter.«
    »Cecilia? «
    »Ja. Und sie sagt, dass es Cecilia war, die mir die Muschelseide geben wollte. Man sollte doch meinen, dass die Toten, wenn sie einmal tot sind ...«
    Ich biss mir auf die Lippen, denn ich hatte schon zu viel gesagt. Reden wollte ich schon, aber nicht von gewissen Dingen. Ich hatte Angst, dass er noch mehr fragen könnte, und machte eine Bewegung allgemeiner Unsicherheit.
    »Aber man kann nie wissen, oder?«
    Er wandte kein Auge von mir.
    »Sicher«, sagte er. »Man kann nie wissen. Sterben mag wie ein Schlaf sein. Wir wachen auf und sind neu geboren, wie ein Kind, das eben zur Welt gekommen ist.«
    Der sonderbar tiefe Ausdruck, mit dem er mich ansah, verwirrte mich. Und gleichzeitig war ich glücklich. Ich hatte plötzlich den Wunsch, dass er mich in die Arme nahm, mich von der Angst vor meinem eigenen Denken erlöste. Ich lächelte schwach.
    »Was du jetzt gerade gesagt hast, ist sehr schön.«
    »Ach, findest du?«
    »Ja, es geht mir sehr nahe. Die Chancen, dass es wahr sein könnte, sind womöglich größer, als man denkt. Ich ... ich sehe sie nämlich auch, musst du wissen.«
    »Wen siehst du?«, fragte er sanft.
    »Cecilia«, flüsterte ich. »Ich sehe Cecilia. Und ich weiß genau, es hört sich verrückt an. «
    Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht.
    »Warum denn? Wenn du sie ehrlich siehst ...«
    »Ehrlich? Wie meinst du das?«
    »Ich meine, ohne Whisky, Wodka, Thaipillen oder Kokain. Und ohne angefangene Romane oder Schlaftabletten. Das ganze Zeug liefert nämlich keine Garantie, echte Gespenster zu sehen.«
    »Nein, nichts von alledem«, sagte ich lachend, durch seinen Humor wieder eingefangen in die beruhigende Stimmung zurückkehrender Sachlichkeit.
    »Erzähl mir von ihr«, sagte er.
    »Warum willst du mich zum Reden bringen?«
    »Weil ich berufsmäßig neugierig bin.«
    »Gewöhnlich«, sagte ich ein wenig beschämt, »tue ich mich nicht so schwer. Aber das hier ist schwierig. Zuerst musst du wissen, dass ich in einem sehr alten Haus lebe.«
    Er nickte.
    »Ahnengeister fühlen sich in alten Häusern wohl.«
    »Woran spürt man das?«, fragte ich, plötzlich sehr wissbegierig.
    »Weil sie dort gelebt und geatmet haben. In solchen Häusern sind sie sehr real. Aber sind das nicht alle Toten, die wir vergessen haben? Und sie sind überall. Man kann nicht sagen: ›Da, das ist die Stelle.‹«
    Ich starrte ihn an.
    »Woher weißt du das?«
    Er antwortete mit einem Lächeln.
    »Sagen wir mal, ich befasse mich ein wenig mit diesen Dingen. Aber ich bin ein Skeptiker.«
    »Skeptiker reden nicht wie du.«
    »Ich bin eben ein japanischer Skeptiker.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Damit gebe ich mich nicht zufrieden.«
    Er nahm einen Schluck Kaffee.
    »Ich habe darüber nachgedacht. Sagen wir es mal so: Das Leben begann mit einfachen Zellen. In vielen Millionen Jahren, während diese Zellen die Gestalten des Lebens formten, haben sie viele Erfahrungen gesammelt. Ich spreche von den Erfahrungen im Mutterleib. Die Toten sind nicht immer stumm und unsichtbar. Haben sie uns etwas zu sagen, treten sie in Erscheinung. «
    Ich fühlte, wie mir das Blut in den Adern gefror. Noch bevor ich ihm antwortete, erinnerte ich mich: Es war genau das, was sich abgespielt hatte. Es war etwas höchst Einfaches und doch wieder unklar und verwirrend. Ich wollte, dass es ein Traum war, aber gleichzeitig wurde mir klar, dass es kein Traum gewesen sein konnte. Ich beschloss mich zu erinnern, trotz des Brechreizes, der in mir hochstieg, und eines gewissen natürlich empfundenen Respekts vor dem Privatleben meiner Eltern. Meine Angst hatte aufgehört. Wenigstens etwas. Ich sagte:
    » Cecilia kam, als meine Mutter starb.«
    Sein aufmerksamer Blick gab mir Mut. Er schwieg, und in dieses Schweigen hinein erzählte ich ihm, was ich an Marinas Bett gesehen hatte.
    »Danach war ich wie benommen. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich gesehen hatte. Im Zimmer war es stickig, und es duftete nach ›L’air du Temps<, dem Lieblingsparfüm meiner Mutter. Ich setzte mich zu ihr auf den Bettrand. Sie hob ein wenig die Lider, ich sah das Gleiten der Pupille auf dem weißen Augapfel. Ich lächelte sie an.

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