Muschelseide
dort lagen, bevor er zweimal die Hände aneinander schlug und für kurze Zeit mit gesenktem Kopf stumm verharrte. Dann erst trat er zurück und sah mich an.
»Was mir die Redaktion mitteilte, stimmt tatsächlich. Hier stehen alle Namen. Der Kreuzer Sakaki wurde am 11. Juni 1917 von einem U-Boot der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine getroffen. Einen Monat zuvor hatte die Mannschaft über dreitausend britische Soldaten der sinken den Transylvania geborgen und sie in die italienische Hafenstadt Savona in Sicherheit gebracht.«
Ich starrte ihn an und fühlte mich plötzlich bleiern schwer, von Staunen über etwas Unbegreifliches erfüllt. Die Empfindung war nahezu physisch. Wie kam es nur, dass zwei unterschiedliche Begebenheiten plötzlich auf die gleiche Linie rückten? Das Zufällige konnte doch kaum so weit reichen! Aber die Dinge waren aus dem dunklen Tunnel der Geheimnisse hervorgekommen. Erlebt das Empfinden eine solche Steigerung, befällt uns Erschrecken, und jedes Wort hört sich unpassend an. Ich wusste nicht, wie ich meiner inneren Bewegung mit Worten Ausdruck verleihen sollte. Ich sagte verstört:
»Hör mal, fändest du es nicht merkwürdig, wenn es ausgerechnet japanische Seeleute gewesen wären, die Gaetano gerettet haben? Stell dir mal vor! Vor neunzig Jahren!«
Er ließ einen Augenblick verstreichen, bevor er antwortete:
»Zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegen immer Verbindungswege. Und manchmal wird uns recht bange dabei. Die meisten Menschen denken ungern an Zeiten des Leidens zurück.«
»Ja, das ist wahr.«
Die Sonne stach sogar im Schatten. Mir brach plötzlich der Schweiß aus. Der Name Sakaki tauchte in meinem Gedächtnis auf, aus irgendeinem Traum, den ich früher mal gehabt hatte. Aber mit einem Mal wusste ich, dass ich diesen Namen gar nicht im Traum gehört haben konnte. Weit zurück, ganz am Rande der Erinnerung – oder noch weiter vielleicht, denn die Begebenheit lag ja außerhalb meiner Zeit –, hatte jemand davon gesprochen.
Es gab eine Angst, sich zu erinnern. Als ob Erinnern etwas Gefährliches sei, das man zur Strafe noch einmal erleben müsse.
Ich rieb mir die feuchte Stirn.
»Diese Art von Geschichten, die gehen mir unter die Haut...«
Der Wächter strich um uns herum, ließ uns wissen, dass er uns für Fragen zur Verfügung stand. Er langweilte sich offenbar, wir waren ja an diesem Morgen die einzigen Besucher. Kazuo nutzte die Gelegenheit und fragte, ob Japaner gelegentlich den Friedhof besichtigten. Der Wächter schüttelte den hageren Kopf.
»Es kommen nur wenige. Sie bringen nie Blumen mit. Sie legen kleine Münzen, wie Sie es auch gemacht haben, vor die Säule.«
»Ja, das ist ein japanischer Brauch. Handelt es sich um ältere Menschen?«
»Eigentlich schon«, meinte der Wächter.
Kazuo bat um Erlaubnis, die Grabsäule zu fotografieren. »Alle Japaner fotografieren hier«, sagte der Wächter in nachsichtigem Tonfall.
Kazuo machte ein paar Bilder, Gesamtansichten und Detailaufnahmen. Dann fragte er mich, ob er auch Gaetanos Grab fotografieren dürfe, und nahm auch mich neben dem Grab auf.
Danach gaben wir dem Wächter ein Trinkgeld, bevor wir zurück zum Wagen gingen. Wir fuhren die glühende Landstraße hinauf. Keiner von uns redete. Bald kamen wir zu einem Platz mit einigen frisch besprengten Café-Terrassen. Wir parkten den Wagen und setzten uns in den Schatten der Platanen.
»Eiskaffee?«, fragte Kazuo.
»Ich weiß nicht.«
»Einen Espresso?«
»Ein Espresso wäre gut.«
»Ich nehme auch einen«, sagte Kazuo.
Wir waren beide ein wenig durcheinander.
Im Schatten war es angenehm kühl. Der Platz war zum Meer hin offen. Der Handelshafen und der Sporthafen mit ihren vielen Schiffen befanden sich unterhalb der Kalkfelsen. Nach einer Weile sagte Kazuo:
»Ich denke, dass die japanischen Besucher Nachkommen der Seeleute sind, die damals ums Leben kamen. Ich werde im Internet suchen. Vielleicht finde ich mehr heraus. Und den Weg zur Nationalbibliothek werde ich mir wohl nicht ersparen können.«
Der Kellner kam mit dem Kaffee. Ich nahm gleich einen Schluck.
»Als Francesca mal in guter Stimmung war, erzählte sie mir, dass sie noch ein Tagebuch ihrer Mutter besitzt.«
»Hast du es nie gelesen?«
»Sie gibt es nicht aus der Hand.«
»Wenn es etwas so Privates ist ...«
»Ach! Kann eine Geschichte, die so lange zurückliegt, eigentlich noch privat sein?«
»Vielleicht kommt es darauf an, wie weit man davon betroffen wurde ... «
Kazuos
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