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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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schwermütiger; das Alleinsein hatte seine
Kraft überstiegen. Und trotzdem waren sich beide Männer in ihrer freundlichen Zurückhaltung ähnlich. Sie gehörten zu den Menschen guten Willens, Menschen, die so wertvoll waren in unserer abgebrühten, gefühlskalten Welt.
    Lorenzo, Nona und die Jungen kamen, um sich von uns zu verabschieden. Nona war sehr heiter, wohl hauptsächlich wegen ihres starken Glaubens an mich. Entweder sah sie wahrhaftig in die Zukunft oder sie wollte es mir leicht machen. Sie schien es als Tatsache anzusehen, dass Azur gleich morgen auf das Projekt eingehen und dass ihre Traumgestalt – die Fremde mit dem Rucksack – in Bälde vor ihrer Tür erscheinen würde, Vorläuferin der vielen jungen Frauen, die sie in die Geheimnisse der Muschelseide einweihen wollte. Ihre Einfalt rührte mich, obwohl sie mich auch erschreckte. Sie hatte natürlich keine Ahnung von der hierarchischen Dynamik eines multinationalen Konzerns. Azur war ein Abbild unserer Gesellschaft, nicht besser und auch nicht schlechter. Alle Entscheidungen hatten finanzielle Konsequenzen. Man würde das Projekt nur gutheißen, wenn die Kombination von Prestige und Business stimmte. Doch weder Lorenzo noch Nona ließen sich von ihrer Zuversicht abbringen. Was bei ihnen zählte, war die Bereitschaft, der gute Wille. Sie würden ihrer üblichen Beschäftigung nachgehen in der sicheren Überzeugung, dass das Schicksal, die Vorbestimmung oder was auch immer ihnen gut gesinnt war. Und Nona sagte abschließend:
    »Ich liebe die Muschelseide zu sehr, um noch mehr Zeit zu vertrödeln.«
    »Fühlst du dich überfordert?«, fragte mich Kazuo, als sie gegangen waren.
    »Ach ja, und wie!«, gab ich zu. »Ich bin mit dem Thema Ehrlichkeit sehr zurückhaltend. Azur steckt doch kein Geld in eine Sache, die sich nicht lohnt. Nona und Lorenzo machen sich ja keinen Begriff von dem, was auf dem Spiel steht.«
    »Ich mag Menschen«, sagte Kazuo, »die sich nüchterne Wahrheiten freundlich anhören, aber nach wie vor in ihren Utopien leben. Und am Ende, wer weiß?«
    Ich hatte bereits die Fähre reserviert, und in der Mittagszeit reisten wir ab. Kazuo humpelte auf einer Krücke, fühlte sich aber wieder ganz wohl. Es machte mir nichts aus, mich um alles zu kümmern, das war seit vielen Jahren eine Sache, die ich perfekt konnte. Die Rückreise verlief ohne Zwischenfall; es wehte ein angenehm kühler Wind; vom Deck aus hörten wir, wie die Motoren ansprangen, und sahen, wie die Insel sich allmählich im zerfließenden Sonnenlicht auflöste.
    Am späten Nachmittag waren wir in Valletta, fest eingekeilt in eine lange Schlange von Wagen, die mit der hierorts üblichen Nonchalance abbogen und Kurven schnitten, wobei sie allerdings – von langjähriger britischer Disziplin geprägt – vor jeder roten Ampel gehorsam warteten. Mit meiner Zubringergenehmigung konnte ich in die Fußgängerzone fahren und vor unserem Haus halten. Kazuo sollte sich zunächst ausruhen, bevor wir seine Sachen im Phönizia holen würden. Nichts eilte, sein Zimmer war noch für zwei Tage gebucht.
    »Du musst jetzt ein paar Treppen steigen«, sagte ich zu Kazuo, als Domenica, die uns mit glücklichem Lächeln und ausdrucksvollen Summtönen begrüßt hatte, Kazuos Tasche in das dunkle Vestibül trug. Kazuo blickte skeptisch nach oben und meinte, das würde als Übung genau richtig sein. Ich half ihm die Stufen hinauf; als mein Vater ihm auf der Schwelle seines Arbeitszimmers entgegenkam, stand er ziemlich fest auf seiner Krücke. Ich übernahm das Vorstellen. Kazuo verbeugte sich, zog etwas umständlich seine Visitenkarte hervor und überreichte sie Ricardo, der sie nach japanischer Art mit beiden Händen entgegennahm.
    »Sie können dieses Haus als das Ihre betrachten«, sagte Ricar do in seiner altmodischen Höflichkeit. »Aber für die Gastfreundschaft werden Sie bezahlen müssen, indem Sie mir – dann und wann – Gesellschaft leisten. Ich habe mich von den Geschäften zurückgezogen, höre aber bisweilen gern, was draußen in der Welt so geschieht.«
    Kazuo bedankte sich, verbeugte sich pflichtschuldig ein zweites Mal, wobei er leicht auf seinem verletzten Bein schwankte. Ricardo war sofort bei ihm, stützte ihn und führte ihn in sein Arbeitszimmer, das nach der Hitze draußen angenehm dunkel und still war.
    »Haben Sie noch Schmerzen?«
    »Es ist vorbei, es tut nicht mehr weh«, sagte Kazuo, um ihm eine Freude zu machen. Er setzte sich mit leichter Grimasse in den Sessel, den

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