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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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unwillkürlich dazu nickte.
    »Bleib lieber sitzen«, rief ich ihr zu, als sie sich auf die Sofalehne stützte. Sie warf mir einen argwöhnischen Blick zu, sah, dass ich ihr wohl wollte, und ließ ein bitteres Lachen hören, das wie ein Schluchzen klang, bevor sie sich erneut an Kazuo wandte.
    »Sehen Sie, ich hatte ja nichts in der Hand. Nur die paar Namen, die übrig blieben. Hundertmal sprach ich bei irgendeinem Standesamt vor, strapazierte Übersetzer, wühlte in Urkunden. Ich wusste – nach so vielen Jahren, und erst recht nach dem Krieg –, dass, um das zu tun, Heroismus erforderlich war, nicht mehr und nicht weniger. Hundertmal habe ich mich bemüht, ohne dass es mir je gelang ...«
    Sie stockte, biss sich hart auf die Lippen.
    »Ich tat, was ich tun zu müssen glaubte, auf hartnäckige Weise. Weil es eben in meiner Natur liegt. Und ich bereue nichts. Man verliert noch mehr Zeit, wenn man anfängt, solche Dinge zu bereuen. Aber ein Wunder erwarte ich nicht mehr. Ich will auch nicht weinen, es nützt ja nichts. Und mich umbringen? In meinem Alter? Das wäre idiotisch, finden Sie nicht auch?«
    Sie starrte Kazuo an, als ob sie irgendeine Antwort von ihm erwartete, und Kazuo murmelte pflichtschuldig, doch, ja, das finde er auch. Inzwischen versuchte Francesca, auf die Beine zu kommen, zog sich immer wieder hoch, mit einem kleinen Ruck, schaffte es jedoch nur mit meiner Hilfe. Ihre Haut fühlte sich klamm an, sie roch nach altem Schweiß, ein Geruch, den ich zum ersten Mal an ihr wahrnahm. Ich sagte:
    »Dir täte jetzt eine Tasse Tee gut.«
    »Nein. Ich will noch arbeiten.«
    Ich deutete mit dem Blick in Richtung Esszimmer und nickte meinem Vater zu.
    »Ihr könnt schon anfangen. Ich komme gleich.«
    Gemeinsam stieg ich mit Francesca die Treppe hinauf; sie atmete stoßweise und lehnte sich am Anfang schwer an mich, bevor ihr Schritt allmählich fester wurde. Und als wir vor ihrem Zimmer standen und ich die Tür öffnen wollte, gab sie mir auf halbem Weg zur Klinke einen heftigen Schlag auf das Handgelenk.
    »Nach oben, habe ich gesagt!«
    Der Hieb war recht schmerzhaft gewesen. Ich wurde allmählich ungehalten.
    »Francesca, du solltest dich ausruhen, du siehst mies aus ... «
    Ihre Augen, durch die Wimperntusche gespenstisch vergrößert, funkelten mich an, bevor sie mir zulächelte. Ihr Lächeln prägte sich mir als das Unheimlichste ein, das ich je gesehen hatte, weil es gleichzeitig so verloren, trotzig und angriffslustig war.
    »Mir fehlt nichts! Los, komm jetzt!«
    Sie packte mich am Arm, zerrte mich mit sich. Ich versuchte vergeblich, ihre umklammernden Finger zu lösen.
    »Francesca, du tust mir weh! «
    Sie schüttelte gehässig den Kopf, zog mich die Treppe hinauf, legte nicht einmal eine Verschnaufpause ein. Was ging in ihr vor? Ich misstraute ihr sehr, war auf alles Mögliche gefasst, hatte jedoch im Umgang mit Irren keine Übung. Verschreckt und verärgert stieg ich hinter ihr her, bereit, sie aufzufangen, falls sie das Gleichgewicht verlöre. Endlich erreichten wir das düstere Stockwerk unter dem Dach. Francesca tappte durch den schmalen Eingangsflur, stieß die Tür zu ihrem Atelier auf. Ihre tastenden Hände fanden den Schalter. Licht flammte auf. Ich trat hinter ihr in den Raum. Ein Geruch nach Farbe und irgendwelchen Lackmixturen schlug mir ins Gesicht, ein Geruch, den ich als solchen nicht wahrnahm, denn das, was ich sah, nahm mir fast den Atem. Die fertigen Bilder hoben sich hell und geradezu leuchtend im diffusen Licht ab, mehr oder weniger scharf umrissene Rechtecke und Vierecke, die an der Wand lehnten. Manche lagen auf dem Fußboden verstreut, schimmerten klebrig und feucht. Das eine, das große auf der Staffelei, direkt unter dem Dachfenster und an der Klemmvorrichtung befestigt, hatte Francesca noch in Arbeit. Die Farben – Acryl auf Leinen – waren nicht trocken, die Form in der Mitte des Bildes, eine Art schwarzer Strudel, unvollendet. Was die Bilder eigentlich darstellten, vermochte ich im ersten Moment nicht zu begreifen. Stellten sie überhaupt etwas dar? Nur die Farben waren mir vertraut, diese Bronze, dieses eigenartige Blau, dieses ganz besondere, rosa schimmernde Grün. Es waren die Farben der Muschelseide, die lebendigen Farben des Meeres. Doch die Schatten auf den Bildern schufen eine Perspektive, die den Blick von links nach rechts – oder umgekehrt – über die Leinwand zog, die Wellenkämme entlang, die stets im oberen Teil der Gemälde angedeutet waren, sodass in

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