Muschelseide
Francesca zu ihm zu führen, erklärte, dass Kazuo einen Unfall gehabt habe und für ein paar Tage in unserem Haus zur Rekonvaleszenz wohnen würde. Er nannte Kazuos Namen; aber noch während er sprach, starrte ihm Francesca mit kalter, nahezu frecher Aufmerksamkeit auf die Lippen, als fiele ihr unangenehm auf, dass er Kazuos Namen stümperhaft aussprach, und hielte ihre boshafte Bemerkung dazu nur mit Mühe zurück. Doch fast im gleichen Atemzug blieb sie stehen, wo sie war. Statt Kazuo zu begrüßen, richtete sie mit rauer, brüchiger Stimme das Wort an ihn, wiederholte seinen Namen, jedoch mit einer ganz anderen, im Gegensatz zu meinem Vater eindeutig japanischen Betonung.
»Kazuo Imada? Woher kommen Sie? Ihr Name steht nicht auf meiner Liste.«
Und bevor Kazuo, starr vor Überraschung, eine Antwort hervorbrachte, krochen Francescas Hände, leicht gespreizt und knochig wie Flügel, aus dem roten Ärmeln hervor. Sie atmete schwer, wie erschauernd, machte traumwandlerisch einige Schritte auf das Sofa zu, das sie jedoch nicht erreichte. Auf halbem Weg drehte sie leicht seitwärts ab, knickte zusammen. Wie bei einer Stoffpuppe schwang ihr Kopf auf merkwürdige Weise herum. Ihr Gewand ging nieder in sinkendem rotem Geflatter. Sie fiel, während ihre Hände, im vergeblichen Versuch, sich irgendwo zu halten, fahrig über eine Reihe alter Bücher tasteten, die sie bei ihrem Sturz zu Boden riss.
23. Kapitel
M it Hilfe von Domenica, die erschrocken herbeigeeilt war, hob ich Francesca auf und trug sie auf das Sofa. Kazuo stand stumm und betroffen da. Mein Vater stammelte, dass er sofort Dr. Lewis anrufen wollte. Während er den Hörer abnahm und die Nummer der Praxis wählte, benetzte ich Francescas Gesicht mit etwas Wasser. Domenica brachte ein Fläschchen Minzextrakt. Sie tupfte einige Tropfen auf Francescas Schläfen, hielt ihr das Fläschchen unter die Nase. Inzwischen kritzelte mein Vater einige Worte auf den Notizblock und legte den Hörer wieder auf. Er sagte, dass in Dr. Lewis’ Praxis nur der Anrufbeantworter eingeschaltet sei, der die Nummer des Notfalldienstes angab. Er wollte sofort den Krankenwagen bestellen, doch Francesca kam bereits wieder zu sich. Ihre Augen schwammen, und auf ihrer Wange zeigte sich eine Prellung, die sie sich bei ihrem Sturz zugezogen hatte. Kazuo stand dicht neben mir hinter einem Lehnstuhl, den er mit beiden Händen umklammerte. Er sah mich hilflos an und murmelte:
»Ich glaube, ich sollte doch lieber im Hotel übernachten...«
»Warte«, sagte ich halblaut.
Francesca stöhnte leicht auf, versuchte sich aufzurichten. Dabei zeigte ihr Gesicht eine Art Zorn, eine widerspenstige, wilde Verzweiflung. Tastend setzte sie sich auf, zog ihren Kragen, den ich geöffnet hatte, wieder zu. Immer noch liegend, starrte sie an mir vorbei auf Kazuo, wobei sie sich auf die Seite wälzte und die gewölbte Hand über die Augen legte, als sei ihr das letzte Tageslicht zwischen den Vorhängen zu viel.
»Sumimasen«, flüsterte sie heiser, und ich erkannte das japanische Wort für Entschuldigung. »Ich habe einen Augenblick geglaubt...«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Kazuo verbeugte sich leicht, ließ Francesca wissen, dass ihn ihr sonderbares Verhalten nicht kränkte. Inzwischen war es ihr gelungen, sich ganz aufzusetzen. Sie atmete in schweren Stößen, und ihre Augen schimmerten wie trübes Glas. Und plötzlich quollen, während ein Beben über ihr Kinn lief, zwei Tränen unter den zuckenden Lidern hervor. Mein Vater räusperte sich, äußerst verlegen, und reichte ihr ein Taschentuch. Sie riss ihm das Taschentuch aus der Hand, putzte sich die Nase, wischte sich mit den Tränen gleichzeitig auch die schwarze Schminke von den Augen. Ricardo blickte hilflos auf sie hinab.
»Francesca, soll ich den Notarzt bestellen?«
Sie zerknüllte ihr Taschentuch, erwiderte sein verlegenes Anstarren mit einem wütenden Blick.
»Lass den Notarzt aus dem Haus, der fehlte gerade noch!«
Eine Weile saß sie unbeweglich da; nur ihr Atem rasselte. Dann drehte sie sich ungelenk zur Seite, setzte beide Füße auf den Boden. Dabei murmelte sie unentwegt vor sich hin, den Blick auf Kazuo gerichtet.
»Verstehen Sie? Ich ... ich habe immer gehofft, es werde ein Wunder geschehen und ich fände die Kraft, es zu ertragen. Aber es konnte ja nicht sein. Das wäre ganz und gar unmöglich! «
Sie sagte das mit so tiefer Überzeugung, dass Kazuo, der ebenso wenig wie ich verstand, worüber sie denn eigentlich redete,
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