Muschelseide
kennen. Ein paar Tage später rief er mich an. Er wollte über die japanische Gedenksäule berichten. Ich fuhr mit ihm zum Friedhof und zeigte ihm auch Gaetanos Grab.«
»Hast du mir seinetwegen die vielen Fragen gestellt?«
»Oh, das war nur eine Phase, die mit allem anderen zusammenhing«, sagte ich und dachte dabei an Francesca. »Aber natürlich war es nützlich für mich, dass ich einiges erfahren hatte.«
Nach wie vor klang Ricardos Stimme neutral.
»Hast du ihm gesagt, dass Gaetano von japanischen Seeleuten geborgen wurde?«
»Wir haben darüber gesprochen«, erwiderte ich, Ricardo unwillkürlich in seinem unterkühlten Ton nachahmend.
Danach fasste ich mich in Geduld. Wer sich mit Ricardo auf ein Gespräch einließ, benötigte starke Nerven. Er hatte eine vertrackte Art, eine Sache lang und breit zu überdenken, bevor er sein Orakel verkündete. Aber diesmal – und nach widerwärtigem Verstummen – überraschte er mich mit den Worten:
»Eigentlich hattest du immer ein gutes Auge, um Menschen zu beurteilen.«
Das war bedeutend mehr, als ich mir von ihm erhofft hatte. Ich sagte, betont heiter:
»Nun, ich bin eben eine glückliche Natur.«
»Spielt er Schach?«, fragte Ricardo.
An dieser Frage merkte ich, dass alles glücklich überstanden war. Mein Herz schlug heftig, denn ich war tief bewegt.
»Ich weiß es nicht. Ich werde ihn fragen.«
»Nun, es wird sich ja herausstellen.« Ricardo sprach gleichmütig. »In London hatte ich japanische Geschäftsfreunde. Es sind angenehme Leute zumeist. Ja, du kannst ihn mitbringen. Das mag zur Abwechslung nett sein.«
»Er wird dir gewiss Kostgeld zahlen«, sagte ich, um das Gespräch zu seiner vollkommenen Zufriedenheit zu beenden.
»Über Geld«, erwiderte er steif, »rede ich nur unter vier Augen.«
Ich schaltete mein Handy aus und dachte, gottlob haben sich in Ricardos Kopf keine fixen Ideen gebildet. Viele Menschen ziehen sie wie ein Kleidungsstück über und behalten sie ein für alle Mal an, froh, ein Gehäuse für den ängstlichen Geist gefunden zu haben. Mein Vater hatte in seiner Einsamkeit gelernt, sich ein Bild von Menschen und den Dingen zu machen, noch bevor er sie kannte. Ich meinte, dass er wohl mit Kazuo gut auskommen würde.
In Djweira Bay wartete ich auf Lorenzo, der sich extra für mich freigenommen hatte. Er kam pünktlich und gut gelaunt; er hatte Kazuo kurz besucht und war froh, dass es ihm besser ging. Wir fuhren mit der Gianna hinaus. Es war eine gute Zeit zum Filmen, weil die Sonnenstrahlen bereits senkrecht ins Meer fielen. Das Wasser wurde hellgrün davon erleuchtet, und die Sicht war optimal. Als das Boot die richtige Stelle erreichte, zog ich meine langen Flossen über, machte die Kamera bereit und ließ mich in die ruhigen Wellen gleiten. Ich sah die Seegraswiesen im fahlen Dunst der oberen Wasserschichten sanft und geisterhaft wehen. Wer sich dem machtvollen, tiefgründigen Rhythmus des Meeres überlässt, sieht sich umgeben von unzähligen Leben, die auf gleicher Ebene zu existieren scheinen: Das Bewusstsein der eigenen Person erlischt. Das Meer ist die Wiege, in der alles begann. Seit Urzeiten, während sich die Formen des Lebens ihrer Umwelt anpassten, mit ihr kämpften und ihr mit der Kraft ihres Wachstums standhielten, bildeten sich die Formen und Wesen, zu denen auch die Menschen gehören, verloren und schwach in der Unendlichkeit der Ströme. In der grünen Tiefe waren wir keine isolierte Substanz mehr, sondern, wie alle anderen Kreaturen auch, ein Teil der Mutter See, die uns alle geboren hatte. Denn die Schöpfung war ein permanenter dynamischer Vorgang und niemals abgeschlossen. Während ich die Seegräser filmte, spürte ich am eigenen Körper die Strömung, die mich mit allen Halmen in die gleiche Richtung zog. Manchmal legte ich meine Hand auf eine Steckmuschel, um das Größenverhältnis ins Bild zu bringen. Auf diese Weise brachte ich mehrere Tauchgänge hinter mich, filmte zusätzlich einen fast zwei Meter langen Conger-Aal, der sich umständlich in seiner Höhle verkroch, einen seltenen roten Feuerwurm, Seeanemonen mit besonders fleischigen Armen sowie vorbeiziehende größere Fische und die silberne Spur, die sie im Hell- Dunkel zurückließen.
Auf diese Weise drehte ich mehrere Sequenzen, die zeigten, wie gesund die Unterwasserwelt hier noch war. Ich filmte auch einige der Steinblöcke auf dem Grund. Dabei kam mir der Gedanke, das Halbrelief mit der Frauenfigur ins Bild zu bringen. Ich suchte ziemlich
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