Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)
ihre Wangen waren blass. Ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich, der leise bebte, und in ihren Augen nistete der Tod. »Wo bringen sie uns hin?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
Teil II - Die Vergeltung
Kapitel 5. In Gefangenschaft
Der Chronist
Wir erzählen die Geschichte der Diaspora. Es war die Zeit der Dunkelheit. Die Welt hatte sich verfinstert, und die Menschheit hatte sich in der Finsternis zerstreut, um sich den Nachstellungen zu entziehen, von denen sie umgeben und herausgefordert war. Sie hatte die Finsternis dort aufgesucht, wo sie am tiefsten war und wo sie inmitten der ungeheuren Leere unsichtbar war wie ein Sandkorn in der Wüste. Manch einer ging in die Diaspora, um Zeiten der Verfolgung zu überdauern. Und manch einer, der in die Wüste ging, kam gestärkt daraus zurück. Doch zunächst musste er sich ihren Schrecken stellen. Man kann nicht in die Finsternis gehen und zugleich die Augen vor ihr verschließen. In die Finsternis zu gehen, meint, sich ihr zu öffnen und die Finsternis durch sich hindurchgehen zu lassen. Sich in der Leere zu verbergen, bringt mit sich, dass man selbst ganz leer werde. Leer der Furcht, aber auch leer der Hoffnung, leer aller Erwartung. Leer der Zeit, denn das Aufsichnehmen der Leere muss zu der Einsicht führen, dass alles Zeitliche leer ist. Sich in ihm zu verbergen, heißt daher, sich ihm auszusetzen. Finsternis, Öde und Wüste sind keine Orte im Raum oder in der Zeit, sondern Gegenden im menschlichen Herzen, die er aufsuchen und denen er sich stellen muss. Dann kann er ins Sein, ins Licht und in die Zeit zurückkehren, und dann wird er auch allen Anforderungen, die das Sein an ihn stellt, gewachsen sein.
Zunächst ist jedoch die Finsternis. Wir erzählen die Geschichte der Zeit, als die Finsternis am größten war, als die Verzweiflung überhand zu nehmen drohte und als die Leere vollkommen geworden war. Man hatte sich zerstreut wie Flugsand in der Wüste, um sich noch unsichtbarer zu machen. Einsamkeit und Verlassenheit waren die Anmutungen der Stunde. Die Räume, in die man sich zurückgezogen hatte, waren so gewaltig, dass selbst das Licht sie nicht innerhalb menschlicher Lebensspannen zu durcheilen vermochte. Schweigen lastete darum, von den finsteren Räumen her, auf denen, die sich in sie eingegraben hatten. Sie hatten sich der Stille anvertraut, nun drohte die Stille sich ihrer zu bemächtigen. Sie mussten das Schweigen lernen, die Einsamkeit. Sie mussten die Zeit ertragen lernen, die verging, ohne Ergebnisse zu zeitigen, und die wie ein im Kreis und in sich selbst zurückflutender Strom, auf keinen Horizont gerichtet zu sein schien. Sie war voller Arbeit, aber diese Arbeit hatte kein Ziel. Man musste sich mit dem bescheiden, was man hatte, und sich mit dem begnügen, was man gerettet hatte, das war nicht viel mehr als das nackte, allem Sinn entblößte Leben. Sie hatten ihr Dasein gerettet – was fingen sie nun damit an? Auf fernen Monden, Nebeln, Asteroiden fristeten sie es, brachten sie es hin, ließen sie es vergehen. Es war das Dasein in der Wüste und in der Diaspora. Was das Dasein wert ist, zeigt sich, wenn es aller Sinngebungen entkleidet ist. Dann muss sich erweisen, was der Mensch wert ist. Ob er eine Aufgabe hat, und ob er über ein Herz verfügt, das den Schrecken der Finsternis gewachsen ist.
Wir erzählen die Geschichte der Diaspora. Die Geschichte der Diaspora ist verknüpft mit dem Namen eines Schiffes. Das Schiff schwebte im sternenlosen Raum. Es zog seine Bahn durch die ungeheure Finsternis. Es stand regungslos und unbewegt, zugleich raste es mit Lichtgeschwindigkeit. Das war eine Sache des Standpunktes, es lag im Ermessen des Betrachters. Für die Besatzung waren diese Alternativen nicht von Belang. Sie gingen ihrer täglichen Beschäftigung nach, taten ihre Arbeit und versuchten, am Geländer der Routine den Fährnissen der Zeit beizukommen. Das Schiff, auf dem sie Dienst taten, hatten seine Erbauer einst auf den Namen MARQUIS DE LAPLACE getauft. Als Arche, die einen repräsentativen Querschnitt der Spezies Mensch und das gesamte Wissen, das er angehäuft hatte, in seinen Spanten barg, durchzog es die endlose Öde. Es hatte einzelne Glieder seines Leibes aussondern müssen und war auf eine Rest- und Rumpfgestalt reduziert. Verkrüppelt und wesentlicher Organe beraubt, lag es auf seiner unsichtbaren Bahn. Die Aussicht, die sich denen an Bord bot, war immer dieselbe. Selbst
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