Museumsschiff (Gaugamela Trilogie) (German Edition)
wenn sie Millionen Jahre ausharrten, würde keine neue Sonne in der Finsternis aufgehen, in der Wüste aus Raum und Zeit, in die sich zurückgezogen hatten und in der der Begriff des Horizontes, über dem eine Sonne aufgehen könnte, keinen Sinn mehr ergab. Alles war Horizont, denn es gab nichts, was ihn hätte verstellen können. Nichts war Horizont, denn die Weite, in die man hinaussah, war leer. So wüst und leer wie die Welt vor Erschaffung der Welt. Es gab nichts, was sich vom Horizont her hätte ereignen können, da sich nichts ereignete. Selbst der Tod oder die Geburt einer Welt oder einer Milliarde Welten hätte sich nicht mitgeteilt, denn die Besatzung und das Schiff wären zu Strahlung verdorrt und zu Nichts zerrieben, ehe die Mitteilung sie erreicht hätte.
Man sah hinaus, zu Sternen, Milchstraßen, Galaxien und Nebeln. Aber was man sah, waren nicht Sterne, Milchstraßen, Galaxien und Nebel, sondern ihre Bilder, die ihre Zustände vor Millionen und Milliarden Jahren widerspiegelten. Es war, als wolle man sich mit Menschen unterhalten und hielte vergilbte Photographien der Ureltern in Händen. Die Dinge, deren man ansichtig war, gab es schon nicht mehr. Jedenfalls gab es sie nicht so, wie man sie sah. Der Horizont war ein Spiegelkabinett, eine optische Täuschung, ein großer Betrug. Der Gott, der diese Welt geschaffen hatte, schien ein genialischer Betrüger gewesen zu sein. Deshalb hatte er sich längst davongemacht und die Wesen und die inhaltlose Welt, in der er sie ausgesetzt hatte, sich selbst überlassen. Nichts, was man sah, war wirklich. Nichts, was man wissen konnte, war real. Auch die Finsternis war nicht wirklich, denn andere, höherrangige und überlegene Finsternisse und Dunkelheiten hatten sich in sie eingekörpert und eingeschachtelt. Selbst dem Nichts konnte man nicht trauen. Möglich, es hatten sich andere Nichtse, Nichtse höherer Potenz in ihm verborgen. Woran sollte man sich halten?
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Das Schiff namens MARQUIS DE LAPLACE lag lärmend und schweigend, rasend und bewegungslos inmitten dieses Nichts. Die Männer und Frauen, die seine Besatzung bildeten, kümmerte das wenig. Sie gingen ihrem Tagewerk nach. Die technischen Belange mussten unterhalten werden. Die künstlichen Assistenten oder Sklaven – Roboter, Drohnen, Generatoren – bedurften der Wartung und Pflege. Der militärische Drill ging ebenso weiter wie die wissenschaftlichen Geschäfte und der reibungslose Ablauf der Verwaltung. Abends traf man sich an einer der zahllosen Bars, in der Sky Lounge oder auf dem Vergnügungsdeck. Sonntags ging man in den Zoo. Dort wurden die sekundären Spezies der einstigen Heimatwelt archiviert und in ausgesuchten lebenden Exemplaren vorgeführt. Und dann gibt es noch so viel Lärm auf einem solchen Schiff, so viel kleinen Lärm: Rangstreitigkeiten und Liebesgezänk, Eifersucht und kleinen Zwist, Gesten, Worte, Berührungen und den ganzen Kosmos des Menschlich-Allzumenschlichen. Bei einer Besatzung von mehreren tausend Individuen gab es kein menschliches oder gesellschaftliches Phänomen, das nicht repräsentiert gewesen wäre. Auch in diesem Sinne war der Begriff der Arche nicht zu hochgegriffen. Es gab nicht nur Tiger, Elefanten, Nashörner und Giraffen auf der MARQUIS DE LAPLACE, sondern auch Eifersuchtsdramen, Bestechungen, erotische Verwicklungen und Selbstmorde. Es gab eine Polizei, gab schrullige Philosophen, gab kleine Huren und gab pflichteifrige Wissenschaftler. Der Herr über dies alles, Oberbefehlshaber und absoluter Fürst in einem, aufgeklärter Patriarch und melancholischer Beamter, war Commodore Wiszewsky. Getröstet und umsorgt von seiner Mätresse und Gefährtin, Konkubine, Beraterin und Seelenfreundin, der weißrussischen Pilotin Svetlana Komarowa, im fernen Minsk gebürtig, suchte er die Geschicke seiner Gemeinde zu lenken und das Wohl des kleinen Staates und seiner Untertanen in bestmöglicher Weise zu gestalten. Abends, nach dem aufreibenden und ergebnislosen Werk des Tages, stand er am Fenster seiner Suite, das Samtschnäuzchen, das friedvoll schnurrende, im Arm und starrte in die Finsternis hinaus, die sich jenseits der polarisierten Elastalglasscheiben dehnte. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich von dort ein Lichtpunkt nähern konnte, ein hochspezialisiertes, von Menschen geschaffenes Gefährt, ein Schiff. Er litt, denn er hoffte noch. Wenn der Mensch die Ansprüche, die er an die Zeit stellt – und was anders wäre unser Hoffen und Bangen
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