Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Titel: Music from Big Pink: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
Vom Netzwerk:
Lokus, die Stimme gesenkt und die Hände beschäftigt. Etwas flammte auf, da war Feuer in seinen Händen, orangerot. Alles war verschwommen, als ich aus einem wunderschönen Traum erwachte. Im Traum waren wir alle oben an dem kleinen Schwimmteich, kurz hinter Woodstock. Rick und Richard, Alex, Tommy, Johnny Becker, Howard Alk, Skye und noch ein paar andere Mädchen. Selbst Robbie und Dominique waren dort. Es war Sommer, und ich schwebte im warmen, kristallklaren Bergwasser. Man konnte bis zum Grund hinabsehen. Dann geschah irgendwas am Ufer, irgendwas sorgte für Aufregung, und ich versuchte, dorthin zu schwimmen, kam aber nicht ran. Ich griff nach der Uferböschung, die Grasbüschel entglitten immer wieder meinen Fingern, und die ganze Zeit über rannten die Leute nur ein paar Meter entfernt herum. Robbie konnte mich sehen – konnte sehen, dass ich nicht aus dem Wasser kam –, aber er tat nichts, um mir zu helfen. Er saß bloß da, unter einem schattigen Baum, und schrammelte auf seiner alten Stella-Akustikgitarre rum.
    Mein Vater redete, während er mit etwas herumhantierte. Das Feuer war verschwunden, und jetzt sah ich das Blinken von Glas und Stahl. »Und ich kann immer noch ihr Gesicht sehen. Ich sehe es ständig vor mir. Sie hatte braune Augen.«
    »Dad?« Ich versuchte mich aufzusetzen, aber ich war so hilflos wie ein neugeborenes Kätzchen.
    »Manchmal höre ich klar und deutlich, wie sie zu mir spricht. ›Es ist schon in Ordnung. Mir geht’s jetzt gut. Du musst dir keine Sorgen um mich machen.‹ Dann wieder …«
    »Dad? Ich …«
    »… ist sie böse mit mir. Sie schreit mich an, wegen ihres Lebens. Des Lebens, das sie hätte haben können.«
    Mein Blick wurde klarer, und ich konnte erkennen, dass er mein Zellophantütchen vorsichtig wieder verschloss und es zurück in meinen Kulturbeutel legte. Er hielt etwas gegen das Licht, Chrom glitzerte im Schein der Spätnachmittagssonne, die durch das hohe, schmale Fenster fiel. Und jetzt sah ich die Nadel, schlank wie ein Wespenstachel, dünn wie ein Pferdehaar. Die Injektionsnadel eines Profis. Er zog den Gürtel mit den Zähnen zu, während er die rechte Hand mit der aufgezogenen Spritze langsam den linken Arm hinauf und die feine Nadel bis in die Armbeuge führte.
    Sein Daumen drückte den Kolben runter: Er ballte kurz seine Faust, keuchte und ließ den Kopf sinken. Einen Moment lang saß er einfach so da, das einzige Geräusch im Zimmer war das Tropfen des Wasserhahns am Waschbecken. Er hatte nicht über meine Mutter geredet. Er hatte von dem kleinen Mädchen aus dem Krankenhaus gesprochen, eines der Kinder, die er getötet hatte – das Ereignis, das ihn auf diesen Pfad gebracht und alles zerstört hatte. Er hatte übermüdet, verkatert und völlig ausgehungert eine Doppelschicht in der Notaufnahme geschoben. Als nach einem schlimmen Autounfall eine Gruppe Kinder hereingebracht wurde, hatte er das Morphium zu großzügig dosiert und auf diese Weise drei oder vier von ihnen umgebracht. Ich wusste nicht mehr genau, wie viele. Er musste nicht ins Gefängnis gehen, der Krankenhausanwalt konnte ihn rauspauken. Meine Mutter arbeitete weiter, und er fuhr nach Hause, wo er für die nächsten fünfzehn Jahre mit der guten alten Injektionsspritze in seinem Zimmer verschwand. Sie brachte ihm pharmazeutischen Stoff aus dem Krankenhaus mit, wenn sie konnte. Wenn nicht, besorgte sie was von der Straße. Ich war erst sieben oder acht, als es passierte, weshalb ich ihn eigentlich nur als Geist kannte. Hin und wieder blitzte eine Erinnerung an jene Zeit auf, als dieser Geist noch unter den Lebenden weilte: Wie er mit meiner Mutter zu irgendeiner albernen alten Platte durchs Wohnzimmer tanzte, mir auf dem großen Globus in seinem Arbeitszimmer zeigte, wo er schon überall gewesen war. Das meiste von dem, was vor dem vierten oder fünften Lebensjahr geschieht, weiß man nicht mehr. Also standen mir nur vier Jahre mit Erinnerungen zur Verfügung. Das war nicht viel. Aber vielleicht blieb uns ja immer noch etwas Zeit, ein paar glückliche Momente miteinander zu erschaffen.
    Kraftlos hob ich den linken Arm aus der Wanne und streckte ihn meinem Vater entgegen. Meine Venen schimmerten bläulich durch die milchweiße Haut. Sie waren jungfräulich, in allerbestem Zustand. In welchem waren seine wohl inzwischen? Blauschimmelkäse. Staub. Verrostete Rohre. Wir blickten einander lange Zeit an, bevor er aufstand und sich zu mir auf den Rand der Wanne setzte. Er band meinen Arm ab und

Weitere Kostenlose Bücher