Music from Big Pink: Roman (German Edition)
Durning und zwei andere alte Jungfern, allesamt ehemalige Kolleginnen meiner Mutter. Außerdem meine Tante Jackie und Onkel Mort – die Schwester meiner Mutter und ihr Mann – sowie ein paar meiner Cousins und Cousinen. Einige von ihnen erkannte ich nicht, da sie noch Kinder gewesen waren, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, und nun zu dicklichen, griesgrämigen Teenagern aufgeschwemmt waren. Aber ich erkannte Jackies Sohn Frank, dieses Arschloch, und seine Schwester Trudy. Mann, die kleine Trudy. Sie war vielleicht dreizehn gewesen, als ich aus Toronto verschwand. Jetzt war sie achtzehn und ein heißer Feger. Wann hatte ich all diese Leute zuletzt gesehen? Mir fiel es wieder ein: 1963, anlässlich des Thanksgiving-Essens bei Jackie und Mort. Ein paar Tage nach dem Kennedy-Attentat.
»Wird das eine Observierung oder so was?«, fragte der Taxifahrer.
Was die Freunde meines Vaters betraf, so sah ich bloß den alten Dr. Callaghan, der aussah, als wäre er derjenige, der beerdigt wurde. Meinen Dad konnte ich nirgendwo sehen. Schließlich gingen alle im Gänsemarsch hinein. Ich bezahlte den Fahrer und eilte über die Straße.
Ich durchquerte ein kleines Vestibül, in dem es nach verwelkten Blumen, trockenen Bibeln, Parfüm und poliertem Holz roch. Als ich durch die Buntglasscheibe der Tür zur Kapelle linste, konnte ich meinen Vater allein auf der vorderen rechten Bank sitzen sehen. Die gesamte Familie meiner Mutter saß hinter ihm und sämtliche Freunde meiner Mutter auf der anderen Seite des Gangs. Alle ignorierten ihn. Dr. Callaghan saß rechts hinten, als gehörte er gar nicht dazu. Ich stieß die Flügeltür auf.
Callaghan, der Mann, der mich auf die Welt geholt hatte, drehte sich um, warf mir ein warmes Lächeln zu und tätschelte meinen Arm, als ich an ihm vorbeiging. Meine Tante Jackie musterte mit unverhohlener Abscheu meine Jeans, meine Stiefel, meine ganze Erscheinung. Ach, leck mich doch, du vertrocknete alte Ziege. Mein Dad blickte zu mir auf, als ich mich neben ihn setzte. Er sah beschissen aus: Seine Haut war gelb, die Augen wässrig und blutunterlaufen. Sein Haar, früher mal von einem distinguierten Silber und akkurat gescheitelt, war stumpf und wirr und der Kragen seines schwarzen Anzugs von Schuppen übersät. In den Jahren seit unserer letzten Begegnung war er sichtlich geschrumpft, als hätte ihm jemand ein paar Organe entnommen. Schlappe Hühnerhaut hing in Falten um seinen Hals, als wäre seine Haut ein Anzug, der ihm einfach zu groß geworden war. Er sah aus wie eine alte, geschmolzene Kerze, und ich fragte mich, welche Überwindung es ihn gekostet hatte, hier zu erscheinen.
»Hallo, Greg«, begrüßte er mich. Dann kam der Pfarrer und begann seinen Sermon. Ich spürte, wie mein Frühstück – Valium und Smirnoff – seine Wirkung entfaltete. Mein Blick driftete hinauf zu dem Bleiglasfenster in der Rückwand der kleinen Kapelle. Ein in leuchtendes Violett gewandeter Jesus mit einem pfirsichfarbenen Glasheiligenschein hinter dem Kopf legte seine Hand auf das Haupt eines Mannes – vermutlich eines Apostels, Lukas, Markus oder Johannes –, der ehrfürchtig zu ihm aufsah. Jesus lächelte zurück. Die Wintersonne fiel durch das Glas, durch all die kleinen roten, goldenen und blauen Dreiecke, Kreise und Quadrate. Meine Eltern waren beide Ärzte und niemals große Kirchgänger gewesen. Vielleicht hatten sie den letzten Moment so vieler Menschen erlebt – den Schmerz, das Feilschen, die Angst, das Chaos –, dass sie an der Unsterblichkeit zu zweifeln begannen. Als ich klein war und wir an Feiertagen wie Weihnachten und Ostern mit der Klasse in die Kirche mussten, verspürte ich dort nie etwas anderes als bodenlose Langeweile. Dann, mit zunehmendem Alter, ging ich einfach nicht mehr hin – wie alle anderen auch. Ich dachte, dass ich vielleicht heute, da meine Mom dort in der Kiste lag, und mit all den heulenden Menschen hier und dem Schnaps und den Tranquilizern in meinem Blut, so etwas fühlen würde, wie man es in der Kirche fühlen sollte. Aber ich empfand nichts dergleichen.
Ich erwachte gerade noch rechtzeitig aus meinen Tagträumen, um zu registrieren, dass wir aufgefordert wurden, uns zu erheben. Ich half meinem Vater hoch, und gemeinsam sahen wir zu, wie der Sarg auf Rollen rückwärtsrumpelte, während das deutlich vernehmbare metallische Rasseln seltsam fremd die Musik und das Klagen übertönte. Der Sarg verschwand hinter schweren violetten Vorhängen, wo er, so stellte ich es
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