Music from Big Pink: Roman (German Edition)
mir vor, den Flammen übergeben wurde. Aber Garth Hudson, der mit der Musik angefangen hatte, indem er im Beerdigungsinstitut seines Onkels die Orgel spielte, erzählte mir sehr viel später, dass der Sarg bloß in eine Art Lagerhaus kam und der Leichnam erst später verbrannt wurde. Ich nehme an, damit die Trauernden, wenn sie die Kapelle verließen, nicht mitansehen mussten, wie ihre Angehörigen als Krumen und Flocken über die Straße geweht wurden.
* * *
Das Telefon hörte endlich auf zu klingeln. Ich schlurfte zurück in die Küche und warf einen Blick in den Kühl schrank: Das Gemüsefach sah aus, als wäre im Biologieunterricht ein Experiment außer Kontrolle geraten. Im Türregal lag ein mit grünspanfarbenem Schimmel überzogenes Stück Käse. Darüber thronte ein einsames Ei in der Ablage mit den zwölf Vertiefungen. Eine halb volle Viertellitertüte zu dickem, klumpigem Brei geronnener Milch stand neben dem großen gusseisernen Topf, demselben Topf, den Clarissa, unser Hausmädchen, in meiner Kindheit immer dampfend auf den Küchentisch gestellt hatte, bevor sie den noch blubbernden Inhalt mit den Worten »Vorsicht, heiß und fettig« auf unsere Teller schaufelte. Ich hob den kalten Deckel und erblickte ein klebriges Etwas aus Bratensoße und Knochen. Etwas, das meine Mutter vor Wochen gekocht hatte. Ich fragte mich, ob er überhaupt einen Gedanken ans Essen verschwendete, dann sah ich, dass an der Wand neben dem Telefon die Speisekarte von Hong Wa’s Lieferservice klebte.
Das Einzige, was er im Haus hatte, war Eis. Also öffnete ich den Küchenschrank über dem Kühlschrank, begutachtete die Etiketten und fand eine ungeöffnete Flasche Ballantine’s. In der Ferne hörte ich das Geräusch des Fernsehers, gedämpften Applaus und Fetzen von Musik, die aus seinem Zimmer kamen, in das er sich für ein »Nickerchen« zurückgezogen hatte. Das Eis knisterte, als sich der bernsteinfarbene Whiskey darüber ergoss, und das Telefon klingelte erneut.
Nach der Beerdigung war eigentlich geplant gewesen, dass sich alle bei Jackie zu Kaffee, Kuchen und Sandwiches treffen sollten. Doch als ich meinen Vater betrachtete, wie er da zerknittert, völlig hilflos, fertig und schutzlos an der Straße stand, hatte ich mich spontan gegen diesen Plan entschieden, während ich nickte und vorgab, ihrer Wegbeschreibung zu lauschen. Ich hatte ein Taxi angehalten, und mein Dad schien keineswegs überrascht, als ich dem Fahrer unsere Adresse gab. Jetzt rief Jackie wieder und wieder an, vermutlich nicht aus Sorge, sondern vor lauter Wut ob dieses Affronts. Ich schloss die Augen, hielt das Glas an mein Gesicht und ließ die Alkoholdämpfe Nase und Rachen betäuben, bis meine Augen zu tränen begannen – nach etwa einer Minute verstummte das Telefon.
Draußen im Garten regierte der kanadische Winter: die einsame, nackte Ulme in der Ecke, die vereiste Terrasse mit dem Grill, der leere, verschneite Swimmingpool mit den angerosteten Edelstahlleitern. O Mann, gibt es etwas, das leerer aussieht als ein leerer Swimmingpool?
Ohne großartig nachzudenken, wühlte ich in meiner Tasche und blätterte dann durch mein Adressbuch. Ich fand die Nummer, die vor Kurzem erst mit mädchenhafter Handschrift ziemlich weit hinten hineingeschrieben worden war, und nahm das Telefon von der Wand. Es klingelte fünf-, sechsmal, dann meldete sich eine höfliche Frauenstimme. »Hallo, hier bei Gray?«
»Ähm, hi. Könnte ich bitte mit Skye sprechen?«
»Darf ich fragen, wen ich melden darf?«
»Greg hier, Greg Keltner. Ich bin ein Freund von ihr.«
»Einen Moment bitte, Mr. Kellner.«
Ich hörte, wie der Hörer auf den Tisch gelegt wurde, dann das Echo sich entfernender Schritte. Ich stellte mir den Tisch vor, die Füße und den Raum: Vor meinem inneren Auge sah ich lackiertes Antikholz, eine riesige marmorne Empfangshalle und die gewienerten schwarzen Schuhe der Haushälterin oder Sekretärin. Nach einer langen Pause hörte ich abermals Schritte, die diesmal schnell näher kamen, und wie der Hörer aufgenommen wurde. »Hi, Greg!« Sie klang ein wenig atemlos.
»Hi, bist du gerannt oder so?«
»Oh, eigentlich nicht«, keuchte sie. »Wir waren draußen, wollten Tennis spielen, aber es ist so kalt. Und«, ihr Ton änderte sich, wurde sanfter, liebevoller, »wie ist es gelaufen? Wie geht es dir?«
»Oh, okay. Es war okay.«
»Wie geht’s deinem Vater?«
»Er ist okay. Er schläft jetzt. Hör mal, wisst ihr schon, wann ihr wieder
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