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Muss ich denn schon wieder verreisen?

Muss ich denn schon wieder verreisen?

Titel: Muss ich denn schon wieder verreisen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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Werk von mir in die Hände gefallen sein und sollten Sie es sogar gelesen haben, dann wissen Sie, daß ich nicht nur einen Ehemann habe, sondern darüber hinaus fünf Kinder beiderlei Geschlechts, von denen die letzten zwei gleich zusammen gekommen waren. Bis auf die Zwillinge hatte der Nachwuchs schon das Elternhaus verlassen, war aber in erreichbarer Nähe geblieben, so daß sich im Bedarfsfall – und vor allem bei hohen Feiertagen – die ganze Sippe relativ schnell zusammenfinden kann. Der Bedarfsfall tritt immer dann ein, wenn ein Familienmitglied etwas nicht Alltägliches beabsichtigt, also umziehen, auswandern, heiraten oder das Studium schmeißen will. Verreisen gehört auch dazu. Je nach Lage der Dinge wird dem Betreffenden zu- oder abgeraten. Die Diskussionen können nach einer Stunde beendet sein oder auch erst nach mehreren, doch meistens ist es uns gelungen, das aufmüpfige Sippenmitglied wieder zur Vernunft zu bringen. Sohn Sven pflegt weiterhin als Landschaftsgärtner deutsche Parkanlagen, statt in kanadischen Wäldern nach Waschbären zu jagen; Tochter Stefanie hat eingesehen, daß eine Zweizimmerwohnung leichter sauberzuhalten ist als eine Vierzimmermaisonettewohnung, die sie sowieso nicht hätte bezahlen können, und die Zwillinge haben inzwischen ihr Staatsexamen und finden es im nachhinein doch befriedigender, Sechsjährigen in der Schule Lesen und Schreiben beizubringen statt Dreijährigen im Kindergarten die Nasen zu putzen.
    Nur bei Sascha haben wir uns vergeblich den Mund fußlig geredet. Er hat trotzdem seine englische Vicky geheiratet und ist entgegen aller Prognosen noch immer nicht geschieden.
    Der Familienrat wurde einberufen, und man befand, daß ich mir einige Ferientage verdient habe. Die hinter mir liegende Lesereise quer durch Nordrhein-Westfalen war ziemlich anstrengend gewesen – jeden Tag eine andere Buchhandlung, jede Nacht ein anderes Bett –, und überhaupt hatte ich in diesem Jahr noch gar keinen richtigen Urlaub gehabt. Ich unterscheide nämlich zwischen Muß- und Will-Reisen.
    Muß-Reisen sind zum Beispiel Fahrten nach Unterbopfelheim zu Onkel Henry, wenn er mal wieder auf dem Sterbebett liegt, bei meiner Ankunft jedoch aus der Dorfkneipe geholt wird. Zwei Nächte auf dem Ledersofa und vier üppige Mahlzeiten später darf ich wieder nach Hause fahren.
    Eine Muß-Reise ist auch der achtzigste Geburtstag von Tante Lotti, sehr feierlich im Roten Salon eines Viersternehotels mit morgendlichem Sektempfang und abendlichem Diner, zu dem die Geladenen in Abendgarderobe zu erscheinen haben. Tante Lotti in Silberlamé präsidiert den Mumienkonvent, denn selbstverständlich sind die Gäste überwiegend recht betagt, nur nicht ähnlich begütert wie die Gastgeberin, weshalb die vorgeschriebenen Abendkleider zwischen Taftmoiré (fünfziger Jahre) und Seide mit Filetstickerei am Ausschnitt (noch früher!) variieren. Die Smokingjacken der Herren sind auch längst aus der Mode und gehen vorne nicht mehr zu. Der stellvertretende Bürgermeister erscheint mit einem Präsentkorb, hat nur einen dunklen Anzug an, darf aber trotzdem ganz unten an der Tafel mitessen.
    Mein Tischherr ist einundneunzig und schon etwas senil, die Unterhaltung wenig ergiebig. Immerhin erfahre ich, daß der Herr Professor Chefarzt eines Krankenhauses und Spezialist im Veröden von Krampfadern gewesen ist. Ob ich auch welche habe? Da ich passen muß, verliert der Herr Professor das Interesse an mir und wendet sich an die Dame zu seiner Linken, die genau wie er ein künstliches Gebiß und ebenfalls Schwierigkeiten mit ihrem Entrecóte hat. Es war in der Tat etwas zäh geraten.
    Nachdem das Streichquartett seine bezahlten zwei Stunden abgegeigt hatte, durfte ich mich auch verabschieden. Mit dem stellvertretenden Bürgermeister kippte ich noch etwas Handfestes an der Bar – der Champagner kam uns allmählich aus den Ohren heraus –, dann stieg er in sein Auto und ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Am nächsten Morgen noch Frühstück mit Tante Lotti nebst detailliertem Bericht über den restlichen Verlauf des Abends (»Stell dir vor, mein Liebes, wir haben in der Hotelbar sogar noch getanzt!«), dann war ich in Gnaden entlassen.
    Der fünfundachtzigste Geburtstag ist mir erspart geblieben; Tante Lotti ist drei Monate vorher friedlich entschlafen.
    Zu den Muß-Reisen gehören auch die gelegentlichen Fahrten zum Verlag, wo man bei den meiner Ansicht nach völlig überflüssigen Besprechungen (wozu gibt es Telefon?)

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