Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
diesen ersten Feingeist in seinen Reihen als Drückeberger und Taugenichts schmähte. In Wahrheit aber begann mit ihm die Zivilisation. Erst als Homo sapiens Zeit für scheinbar nutzlose Tätigkeiten fand, für Malerei, Bildhauerei, Musik oder die Betrachtung der Sterne, entwickelte er seinen Sinn für Kunst und Wissenschaft und damit für genau jene Qualitäten, die seine Gattung am Ende nachhaltiger voranbrachten als jeder noch so erfolgreiche Jagd- oder Beutezug.
»Mehr als den sogenannten Arbeitsamen oder Fleißigen« verdanken wir den Fortschritt daher »den Müßiggängern, den Beschäftigungslosen«, stellt der spanische Philosoph Miguel de Unamuno zu Recht fest. Gerade die aus dem üblichen Arbeitstrott herausfallenden Taugenichtse, die Künstler, Philosophen, Dichter oder Erfinder produzierten oft jene Gedanken, die sich als wirklich neu und zukunftsweisend herausstellten. »Ohne die Klasse der Müßiggänger«, erinnert uns auch der Philosoph Bertrand Russell, »wären die Menschen heute noch Barbaren.«
IV
DAS SYSTEM DER GEHETZTEN
U nter den Freunden der Entschleunigung ist sie zum Klassiker avanciert: die Geschichte vom armen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer, die Heinrich Böll 1963 als »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral« 1 erzählte und die mittlerweile in diversen Varianten kursiert. Die Handlung verläuft so:
In einem Hafenstädtchen liegt ein armer Fischer gemütlich in seinem Boot und schläft. Ein urlaubender Unternehmer kommt vorbei, fotografiert die idyllische Szene und weckt dadurch den Fischer auf. Die beiden kommen ins Gespräch, unterhalten sich über den Fischfang und die gemächliche Arbeitsphilosophie in dieser Gegend. Als der Reiche erfährt, dass der arme Fischer immer nur einmal am Tag ausfährt und den Rest des Tages herumgammelt, ist sein unternehmerischer Ehrgeiz geweckt. Warum er denn nicht ein zweites oder gar drittes Mal ausfahre? Könne er seinen Fang damit nicht verdoppeln oder verdreifachen? Der Fischer nickt, versteht aber nicht, was ihm das bringen solle. Da belehrt ihn der ungeduldig werdende Unternehmer: »Sie würden sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten und dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen […]« , die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, »Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben.« Doch der Fischer, unbeeindruckt von der Euphorie seines Gegenübers, fragt noch immer verständnislos: »Was dann?« »Dann« , sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, »dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.« »Aber genau das tue er doch längst, antwortet der Fischer und fügt hinzu: »nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.«
Bringt diese Geschichte nicht den ganzen Wahnsinn der modernen Beschleunigungsgesellschaft zum Ausdruck? Zeigt sie nicht, dass letztlich unser übertriebener Ehrgeiz schuld daran ist, dass wir den wahren Lebensgenuss verpassen?
Tatsächlich steckt in dieser Anekdote eine wichtige Einsicht: Das Glück liegt manchmal direkt vor unseren Füßen, und das Einzige, was uns davon abhält, es zu genießen, ist häufig ausgerechnet die Jagd nach dem Erfolg. Leider ist aber die Lösung, die diese Geschichte suggeriert, doch gar zu naiv. Denn Bölls Erzählung lässt sowohl die ökonomische Situation als auch den gesellschaftliche Rahmen, in den die Protagonisten eingebettet sind, gänzlich außer Betracht.
Niemand ist schließlich eine Insel. Auch der Fischer lebt nicht allein, sondern ist Teil einer Gemeinschaft. Und sein geruhsames Leben kann er nur so lange führen, wie auch alle anderen Fischer es ihm gleichtun. Nehmen wir aber an, die übrigen Bewohner des Städtchens würden der verführerischen Logik des Unternehmers folgen und ihren Fang intensivieren. Was würde passieren?
Es würden bald insgesamt mehr Fische gefangen, was zu sinkenden Marktpreisen führt, sodass eine einmalige Ausfahrt mit einem kleinen Boot bald nicht mehr ausreichen würde, um den Lebensunterhalt des entspannten Helden zu sichern. Unserem Mann bliebe über kurz oder lang nichts anderes übrig, als es den anderen Fischern gleichzutun, um
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