Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
konkurrenzfähig zu bleiben. Er würde also ebenfalls nachrüsten – und vorbei wäre es mit seiner Ruhe.
Andererseits enthält aber auch die Vision des Unternehmers einen Denkfehler: Selbst wenn der arme Fischer zum Kapitalisten aufstiege und über eine Hochseeflotte gebieten sollte, würde er am Ende kaum Zeit zum geruhsamen Angeln finden. Denn die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Sie entwickelt vielleicht neue, bessere Schiffe, macht ihm sein Monopol streitig und wirbt ihm die besten Leute ab. Und während unser reich gewordener Fischfangunternehmer am Strand säße, ändern sich vielleicht die Aktienkurse und Anlagebedingungen seines Reichtums, die Grundstückspreise und Schiffsversicherungen und tausend andere Dinge, um die er sich als Unternehmer kümmern sollte – sonst könnte er möglicherweise morgen schon gar nicht mehr angeln.
Wie man die Geschichte auch betrachtet: Ruhe haben unsere Protagonisten nur, solange auch alle anderen entspannt bleiben. Sobald aber die Konkurrenz sich nicht mehr mit dem Althergebrachten zufriedengibt, sondern nach einer Verbesserung ihrer Lage strebt, wird eine unausweichliche Beschleunigungsspirale in Gang gesetzt, die alle Akteure zu immer größerer Hektik zwingt. So nachdenklich einen also Bölls Anekdote stimmt – die moderne Realität trifft sie nicht. Denn diese ist durch und durch vom Denken des ehrgeizigen Unternehmers geprägt. Und da dieses Denken eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Muße ist, lohnt es sich, seinen Ursprüngen einmal auf den Grund zu gehen. Woher rührt es und wie kommt es, dass wir ihm heute alle mehr oder weniger verfallen sind?
Dazu müssen wir in der Historie weit zurückgehen, noch weit vor das Jahr 1748, als Benjamin Franklin die Losung »Zeit ist Geld« ausgab. Denn der Grundstein zum modernen Beschleunigungsdenken wurde schon viel früher gelegt. Beginnen wir daher unsere Zeitreise in jener Epoche, die noch nicht vom unbarmherzigen Diktat der Uhrzeit durchdrungen war, und skizzieren wir kurz, wie das moderne Bewusstsein von Zeit entstand.
4. Leben als letzte Gelegenheit
E ines Tages, so erzählte mir einmal ein Freund, sei ihm die Tatsache des eigenen Todes radikal bewusst geworden. Und zwar nicht auf die übliche rationale Weise – dass wir sterben müssen, wissen wir schließlich alle -, nein, er habe plötzlich ganz unmittelbar, geradezu körperlich gespürt, dass sein Leben irgendwann unwiderruflich zu Ende sei. »Das hat mich im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen. Ich fiel auf den Boden, schnappte nach Luft und wurde von einer Woge des Entsetzens überspült, wie ich sie noch nie erlebt hatte«, schilderte er seine jähe Erkenntnis. Erst nach Stunden habe er sich einigermaßen beruhigt und wieder halbwegs seine gewöhnlichen Aufgaben bewältigen können. Doch die Erfahrung habe ihn seither nie wieder losgelassen und seinen Blick auf die eigene Existenz grundlegend verändert.
Für gewöhnlich sind wir alle Meister im Verdrängen des Todes. Wir führen unser Leben, wie Immanuel Kant einmal bemerkte, in der Regel so, als wären wir unsterblich. Und doch ist da irgendwo im Unterbewusstsein dieses nagende Gefühl der eigenen Endlichkeit, die Ahnung, dass all unser Bemühen, all unsere Erfolge eines Tages hinfällig werden. Und wenn einem dies vollständig ins Bewusstsein dringt, kann das eine Art Schock auslösen.
Denn so sehr auch Wissenschaft und Technik in den vergangenen dreihundert Jahren das menschliche Leben verändert haben – angesichts des Todes stehen wir vor denselben existenziellen Fragen wie die Menschen des Mittelalters oder der Prähistorie. Und aller Aufklärung und allem neuzeitlichen Fortschritt zum Trotz – die Angst vor unserer letzten Stunde ist nicht etwa kleiner geworden, sondern möglicherweise sogar größer als je zuvor. Denn mit der modernen Nüchternheit und dem Siegeszug des rationalen Denkens ist uns zugleich jener Trost abhandengekommen, den früher die Religion versprach – nämlich die Hoffnung auf ein (wie auch immer geartetes) Leben nach dem Tod. Heute ist selbst unter gläubigen Christen das Vertrauen in das Heilsversprechen ihrer Religion erschüttert. Und den meisten säkularen Zeitgenossen klingt das Reden von einem »Jenseits«, einem »ewigen Leben« oder gar der Wiederauferstehung nur noch wie ein Märchen aus alten Zeiten, das in der Moderne jegliche Bedeutung verloren hat. Dem Tod stehen sie ganz nüchtern gegenüber und sehen ihn einfach als großes schwarzes
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