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Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Titel: Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schnabel
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gelacht, aus dem stillen Haus dringt das leise Quietschen einer Tür, und durch die Fenster hört man den von der Straße hereindringenden Autolärm und das anmutige Konzert eines abendlichen Regengusses.
    Cage führt damit seinen Zuhörern vor Ohren, dass wir ständig von Musik umgeben sind, dass der Ton eines fallenden Steins so schön sein kann wie der einer Flöte. Cage selbst erklärte dazu einmal: »Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder der irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind.«
    Dass diese Musik niemals verklingt, davon konnte sich der 1912 geborene Komponist in einem schalldichten Raum an der Harvard University überzeugen. Denn dort, abgeschieden von jedem äußeren Geräusch, hörte Cage – zwei Klänge. Der Tontechniker klärte ihn auf: Der tiefere Ton stammte von Cages eigenem Blut, das in seinen Arterien zirkuliere, der höhere Ton werde von der Aktivität der Nervenzellen in seinem Innenohr erzeugt. »Ich entdeckte, dass die Stille nicht akustisch ist«, sagte Cage dazu. »Es ist eine Bewusstseinsveränderung, eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde zu einer Erkundung des Absichtslosen.«
    Mit dieser Erkundung der Absichtslosigkeit wurde der 1992 gestorbene Cage zu einem der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, der nicht nur Musiker, sondern auch viele Maler, Tänzer und Happeningkünstler beeinflusste. Einer von ihnen, der Schlagzeuger Max Neuhaus, führte Cages Arbeit mit seinen Hörspaziergängen fort: Statt ein Konzert zu geben, drückte er seinen Zuhörern kleine Schilder mit der Aufschrit Listen! (Hör zu!) in die Hand und wanderte dann mit ihnen an brummenden Fabriken vorbei, unter dröhnenden Brücken hindurch und an Schnellstraßen mit ihrem singenden Sound von Autoreifen entlang, ganz nach dem romantischen Motto des Dichters Joseph von Eichendorff: »Schläft ein Lied in allen Dingen …«.
    Cage bezeichnete sich selbst als Anarchist und begriff seine Kompositionen durchaus politisch. Denn wenn er seine Stücke so konzipierte, dass sie bei jeder Aufführung einen völlig neuen Charakter erhielten und dem Zuhörer immer wieder neue Hörerlebnisse bescherten, dann hatte das eine Bedeutung, die für ihn weit über die Musik hinauswies: »Wir brauchen eine Musik, in der nicht nur die Töne einfach Töne sind, sondern auch die Menschen einfach Menschen, das heißt keinen Regeln unterworfen, die einer von ihnen aufgestellt hat, selbst wenn es ›der Komponist‹ oder ›der Dirigent‹ wäre. Bewegungsfreiheit ist die Grundlage dieser neuen Kunst und dieser neuen funktionierenden Gesellschaft mit Menschen, die ohne Anführer und Oberhaupt zusammenleben.«
    Dass viele Menschen von seinen Kompositionen irritiert waren, nahm Cage dabei ebenso in Kauf wie die Kritik, Stücke wie 4,33 seien eigentlich gar keine richtige Musik. Ob man etwas als Kunst ansehe oder nicht, so konterte er, habe weniger mit der Sache an sich zu tun, sondern eher mit der Herangehensweise des Betrachters oder Zuhörers: If you celebrate it, it’s art, if you don’t, it isn’t. p

DER ERSTE KÜNSTLER
     
    Wann der erste Homo sapiens das ewige Jagen und Sammeln leid war, weiß niemand genau. Aber eines Tages muss es so weit gewesen sein: Eine(r) unserer Vorfahren brach aus dem prähistorischen Alltagstrott aus. Statt immer von Neuem auf die Pirsch nach wilden Tieren zu gehen, die Vorratskammer aufzufüllen, Kinder zu wiegen oder feindliche Stämme zu bekämpfen, gab er (oder sie) sich einem faszinierend-neuen Gedanken hin und entdeckte den Wert der schöpferischen Muße.
    Und damit kam die Kunst in die Welt. Vielleicht schlug die Stunde dieses ersten Künstlers der Menschheit vor rund 35 000 Jahren auf der schwäbischen Alb, wo die bisher ältesten figürlichen Darstellungen aus Elfenbein gefunden wurden – fein geschnitzte Mammuts, Wildpferde oder eine vollbusige Frauenfigur, über deren Sinn die Gelehrten bis heute streiten. 1 Handelt es sich bei der »Venus aus Schwaben« um einen Kultgegenstand, eine Fruchtbarkeitsgöttin oder eher um ein steinzeitliches Pin-up-Girl? Klar ist jedenfalls: Wer immer diese frühen Kunstwerke formte, tat etwas Unerhörtes: Statt seine Zeit auf die Herstellung zweckmäßiger Utensilien für den täglichen Bedarf zu verwenden – Pfeilspitzen, Faustkeile oder Trinkgefäße -, gab er (oder sie) lieber seinem Sinn für Ästhetik Ausdruck.
    Gut möglich, dass der restliche Clan

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