Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Titel: Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schnabel
Vom Netzwerk:
Auftreten ist unprätentiös und herzlich, und sie wirkt, als lasse sie sich von nichts und niemandem hetzen. Vielleicht hat das mit der Lebenserfahrung der Kunstlehrerin, Mutter und Großmutter zu tun. Vermutlich liegt es aber auch daran, dass sie jahrelang in Zurückgezogenheit meditierte und offenbar einige Grundfragen des Lebens für sich geklärt hat. Heute leitet sie nicht nur das »Zentrum für buddhistische Studien und Meditation« in Möhra bei Eisenach, sondern arbeitet nebenbei auch in den psychosomatischen Kliniken der Umgebung. Das Achtsamkeitstraining, das sie und andere Nonnen dort probehalber anboten, stieß auf so große Resonanz, dass daraus ein Dauerengagement wurde.
    »Der Bedarf ist unheimlich«, berichtet die Frau, die mit bürgerlichem Namen Ilse Pohlan heißt und von allen nur Yeshe gerufen wird. »Psychosomatische Beschwerden nehmen massiv zu.« Tinnitus, Essstörungen, das Unruhesyndrom ADHS, Schlafstörungen – die Palette der Symptome, mit denen sie zu tun hat, ist breit. Und doch steht für sie dahinter ein und dieselbe Ursache: »Die Menschen merken körperlich, dass sie nicht mehr in Kontakt mit sich selbst kommen.«
    Viele ihrer Patienten hätten das Gefühl, ständig »funktionieren« zu müssen und kaum einmal als vollständige Person mit Hoffnungen, Vorstellungen und Wünschen gefragt zu sein. Dazu kämen die rasante Veränderung der Gesellschaft und der Nachrichtenstrom, der entfernteste Katastrophen ins Haus trägt – all das erzeuge ein permanentes Gefühl der Verunsicherung. »Vielen Menschen geht es wie jemand, der einen schweren Rucksack trägt, ohne es zu merken – und dann wundern sie sich, warum sie abends immer so müde sind.«
    Meist macht sie mit ihren Patienten zunächst ganz einfache Übungen, um sie wieder in Kontakt mit sich selbst zu bringen. Zum Beispiel schlägt sie einen Gong an und lässt ihre Gruppe nur lauschen. »Dieser Klang ist weit, raumfüllend, zugleich emotionslos; er hält nicht fest, engt nicht ein, hat keine Vorbedingungen – das hilft, sich ganz darauf einzulassen«, erklärt die Achtsamkeitstrainerin. So lernen die Patienten, wieder einmal ganz präsent und »da« zu sein, ohne sich ständig von Ängsten oder Hoffnungen treiben zu lassen. »Wir sagen ihnen: ›Von Haus aus ist doch alles da, du trägst alles mit dir.‹« Alleine das empfänden viele ihrer Patienten als enorm wohltuend. Dass man sich nicht erst »beweisen« muss, sondern als Mensch geschätzt wird – das ist für die meisten eine ganz neue Erfahrung. Das Reden vom entspannten Da-Sein dürfe allerdings keine Masche sein. »Man muss mit vollem Herzen dabei sein und selbst leben, was man sagt«, sagt Yeshe. Und man müsse bereit sein, sich auf jeden Moment einzulassen, »ohne zu wissen, was er bringt.«
    Das sei auch für sie selbst eine ständige Herausforderung. Einmal zum Beispiel reagierte eine Patientin panisch auf den Gongschlag – der Schall vibrierte zufällig genau in ihrer Tinnitusfrequenz. Dann zeigt sich, ob die Achtsamkeitstrainerin wirklich entspannt ist. »Wenn man auch in so einer Situation offen und präsent bleibt, dann passiert etwas, dann teilt sich das mit, und es kommt zu einem echten menschlichen Austausch.« Dass sie sich auf diesen Austausch einlässt und sich nicht hinter ihrer Rolle verschanzt, ist wohl genau das, was viele an ihr schätzen. »Im Krankenhaus bekomme ich oft zu hören: Die Ärzte und Schwestern hätten in der Regel ja auch keine Zeit und seien selbst gehetzt. Bei uns merken die Patienten: Wir sind irgendwie anders. Wir fallen aus dem System.« Vermutlich macht das die Therapeutin selbst zu ihrem besten Therapeutikum.

KOMPONIST DER STILLE – JOHN CAGE
     
    Bild 11

     
    Was am 29. August 1952 in der Maverick Concert Hall in New York erstmals aufgeführt wird, hat das Publikum noch nie erlebt. Die Musiker betreten die Bühne, lassen aber ihre Instrumente ruhen. Nach einer kurzen Sammlung gibt der Pianist David Tudor das Zeichen zum Beginn, indem er seinen Klavierdeckel schließt . Und die überraschten Zuhörer bekommen rund vier Minuten lang pure Stille zu hören, bevor die Musiker wieder abtreten.
    Mit seiner Komposition 4,33 (benannt nach der Zeitdauer dieser ersten Aufführung) schreibt der Komponist John Cage Geschichte. Denn in seiner Partitur stehen lediglich drei Sätze mit der Anweisung Tacet , Stille. Doch halt! So völlig ruhig ist es gar nicht im Saal. Hier rascheln ein paar Füße, dort wird gehustet, da wird nervös

Weitere Kostenlose Bücher