Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
zeitgenössischen Stars, Angelina Jolie, macht uns vor, wie man scheinbar mühelos fünf bis sechs Leben gleichzeitig führt: als erfolgreiche Schauspielerin, globales Sexsymbol, selbstbewusste Lebenspartnerin, sechsfache Mutter, als Großverdienerin und zugleich Idealistin, die auf Wohltätigkeitstouren um die Welt reist. »Kein Star unserer Tage verkörpert so vollkommen den vielstimmigen Glücksimperativ, der das Leben der Frauen in der westlichen Welt bestimmt«, schreibt dazu der Spiegel . »Sei erfolgreich! Sei sexy! Sei eine gute Mutter! Mache eigene Erfahrungen! Verlasse dich nicht auf deinen Mann! Habe eine Familie! Lebe ein vollständiges Leben!« 41 An einem solchen Forderungskatalog müsse man eigentlich verzweifeln, weil es schlicht unmöglich sei, ihm zu entsprechen. Angelina Jolie jedoch arbeitet ihn scheinbar mühelos ab, ein Dauerlächeln auf ihren Lippen.
Was die Hochglanzblätter allerdings in der Regel verschweigen, ist der immense Apparat, der dieses Leben erst möglich macht: Denn wie bei jeder Hollywoodproduktion ist ein ganzer Tross von Bodyguards, Kindermädchen, Assistenten, Köchen, Chauffeuren, Trainern und Stylisten nötig, um den Schein der Leichtigkeit zu erzeugen. Und wie im Film bleiben all diese hilfreichen Geister unsichtbar: Jolie und ihr Umfeld sorgen gezielt dafür, dass keine Fotos veröffentlicht werden, auf denen etwa die Kinder mit ihren vielen Nannys zu sehen sind. »Angelina Jolie« sei vermutlich »die größte und perfekteste Rolle, die Angelina Jolie je gespielt hat«, kommentiert der Spiegel zutreffend.
Dass diese Rolle so erfolgreich ist, liegt allerdings nicht nur an der PR-Maschine von Brangelina , sondern auch daran, dass die von ihr erzeugte Illusion so perfekt zu unserer Vorstellung vom überreich erfüllten Leben passt. Welche Frau hätte angesichts eines solchen Vorbilds nicht das Gefühl, selbst auch mehr erreichen zu können, wenn sie sich nur noch mehr anstrengt? So wird der ohnehin schon hohe Erwartungsdruck an das eigene Leben noch verstärkt.
Allerdings: Was wir auch tun und wofür wir uns auch entscheiden – wir müssen uns damit zwangläufig gegen alle anderen möglichen Alternativen entscheiden; und je schneller unser Tempo und umso größer die Zahl der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, umso nagender das Gefühl, diese Vielzahl nie ganz »ausschöpfen« zu können. Da sind sie wieder, die »Opportunitätskosten«, von denen in Kapitel eins schon einmal die Rede war: Je größer die Auswahl, umso mehr haben wir den Eindruck, auf vieles verzichten zu müssen. Allerdings werden die Opportunitätskosten diesmal nicht beim Verzicht auf eine bestimmte Marmeladensorte im Supermarkt fällig, sondern bei jeder Entscheidung von existenzieller Bedeutung. Und wie so oft bekämpfen wir das Problem mit just derselben Strategie, die es herbeigeführt hat: Wir versuchen unser Lebenstempo noch mehr zu beschleunigen, noch schneller zu arbeiten, einzukaufen, zu kochen, Sport zu treiben, zu lieben und die Zweitkarriere zu starten, um noch weniger zu verpassen.
Gerade die Suche nach dem möglichst »erfüllten«, »reichen« Leben führt dazu, dass wir niemals zur Ruhe kommen. Obendrein verleidet sie uns auch noch jene unproduktiven Mußezeiten, nach denen wir uns so sehnen. Denn diese anzunehmen, hieße ja, sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben und damit in letzter Konsequenz auch die Endlichkeit des eigenen Lebens zu akzeptieren. Doch da uns das so schwerfällt, hetzen wir lieber neuen Optionen und Erlebnissen hinterher, ganz nach dem (Ödön von Horváth zugeschriebenen) Bonmot: »Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.«
Um innerliche Ruhe zu finden, wäre es also auch notwendig, unser Verhältnis zu jenem Thema zu klären, das wir so hartnäckig verdrängen – der eigenen Endlichkeit. Natürlich soll damit niemandem empfohlen werden, aus Gründen der Muße einfach wieder an Gott und das Jenseits zu glauben. Ein religiöser Glaube lässt sich, dem Himmel sei Dank, nun einmal nicht verordnen. Aber um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit kommt man nicht herum, wenn man so etwas wie Seelenruhe erfahren will.
Dafür aber brauchen wir wiederum Zeit und Muße. Denn das Verhältnis zum eigenen Tod lässt sich nicht so eben zwischen zwei Geschäftsterminen bereinigen, da hilft es auch nicht, eilig in irgendeinem Ratgeber zu blättern, da müssen wir uns schon in der Tiefe selbst begegnen und unsere ureigene Antwort
Weitere Kostenlose Bücher