Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
Nichts, mit dem alles zu Ende ist.
Das aber hat dramatische Folgen sowohl für unsere Vorstellung vom Leben als auch für unseren Umgang mit der Zeit. Denn was uns mit der Erlösungshoffnung eben auch verloren ging, ist jene religiöse Dimension, die auf den Begriff »Ewigkeit« gebracht wurde. Statt mit dieser unendlich ausgedehnten Zeit rechnen zu können, bleiben uns heute nur die wenigen Jahre und Jahrzehnte unserer eigenen, erschreckend kurzen Existenz.
»War einstmals die Dauer der Welt, von ihrer Erschaffung bis zum Untergang im Letzten Gericht, die Zeiteinheit, mit der die Menschen rechneten, so wird am Beginn der Neuzeit die Dauer des Lebens von der Geburt bis zum Tod zur bestimmenden Zeiteinheit«, schreibt die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer. Die Frage nach der Bedeutung des Todes sei daher in der Moderne unauflöslich verknüpft mit der Frage nach dem richtigen oder »guten Leben«. Und als gutes Leben gilt heute allgemein das »erfüllte Leben«, das darin besteht, möglichst viel von dem, was die Welt zu bieten hat, auszukosten.
Drastisch formuliert: Unser Leben wird zur »letzten Gelegenheit«. 35 Denn wer die Aussicht auf eine Fortsetzung im Jenseits verloren hat, dem bleibt nur eine Hoffnung auf das Paradies – er muss es hier und heute verwirklichen.
Damit aber geraten wir in eine ähnlich fiebrige Unruhe, wie sie schon Goethe seinem Faust andichtete:
Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
will ich in meinem inneren Selbst genießen,
mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen,
ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen
und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
und, wie sie selbst, am End auch ich zerscheitern. 36
Zwar haben wir heute keinen Mephisto an unserer Seite, dafür aber können wir auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zählen. Und der ermöglicht uns gleich zwei Strategien, um »das Höchst’ und Tiefste« möglichst umfassend auszuschöpfen: Vermehrung und Verdichtung. »Das schlichte Kalkül lautet: je mehr Erlebnismittel (Fernsehprogramme, Kleider, Urlaubssituationen, Partner usw.) wir uns aneignen (Vermehrung) und je mehr wir sie in der Zeit zusammendrängen (Verdichtung), desto reicher wird unser Innenleben«, erklärt der Soziologe Gerhard Schulze. 37
Arbeit, Fleiß und Leistung (auch in der Freizeit) werden so zum grundlegenden Imperativ unseres Lebens. »Wir erleben unser Tätig-Sein als permanente Überwindung der Endlichkeit wohl in der Hoffnung, damit auch unsere ›letzte‹ Endlichkeit adäquat bekämpfen zu können. Tritt sie dann dennoch ein, kann man sich nicht nur das Gefühl geben, wirklich gelebt zu haben, man kann vielleicht auch auf ›Werke‹ verweisen, die überleben«, sagt der österreichische Philosoph Peter Heintel. »Fortschritt und Wachstum« seien daher »der immanent adäquate Jenseitsersatz … Stagnation ist unstatthaft, jede ›Leerzeit‹ erinnert an den Tod, an nicht ›überwundene‹ Endlichkeit.« 38
Das erklärt auch, weshalb wir Wartezeiten so schwer ertragen und vor allem das Festsitzen im Stau so hassen: Wir leiden nicht nur darunter, dass »es nicht vorwärtsgeht« (wohin auch immer), sondern vor allem unter dem Eindruck, unsere Zeit sinnlos zu vergeuden. Denn anders als das Warten beim Arzt erscheint uns das Warten im Stau besonders unproduktiv.
Aus demselben Grund genießen wir umgekehrt jede Art von Beschleunigung und Steigerung unserer Möglichkeiten: Denn sie vermitteln uns das Gefühl, mehr Optionen, mehr Anschlüsse, mehr Erlebnisse zu haben, und das macht unser Leben »reicher«. Der Soziologe Hartmut Rosa bringt diese Art zu denken auf den Punkt: »Wir wissen zwar, dass wir sterben müssen, aber wir versuchen, vor dem Sterben noch möglichst viel, unendlich viel unterzubringen.«
Und genau diesem Bedürfnis komme die moderne Beschleunigungsgesellschaft entgegen. Denn: »Wer doppelt so schnell lebt, kann praktisch zwei Lebenspensen in einem unterbringen. Und wenn es auf das Leben vor dem Tod ankommt, ist das eine attraktive Strategie – auch wenn sie nicht aufgeht.« 39
Bild 12
Den Drang zur permanenten Vermehrung unserer Optionen karikierte schon Wilhelm Busch in der Figur des »Mister Pief«: Warum soll ich nicht beim Gehen – Sprach er – in die Ferne sehen? Schön ist es auch anderswo, und hier bin ich sowieso. 40
Das unerreichbare Ideal der Vermehrungsstrategie wird in unseren Tagen natürlich von der Traumfabrik Hollywood geliefert: Einer der größten
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