arbeitete, deadlines und Termine einhalten musste, ging die indische Gelöstheit nach und nach verloren. Bald ertappte ich mich dabei, wie ich selbst durch die Straßen hetzte und an der Kasse im Supermarkt schon unruhig wurde, wenn das Bezahlen eine Minute länger dauerte als gewohnt. Doch so ganz verloren habe ich die Erinnerung an mein »indisches« Lebensgefühl nie mehr. Und ab und zu, in den Momenten der größten Hetze, fällt mir plötzlich ein, dass die deutsche Eile kein ehernes Gesetz ist und dass man das Leben auch sehr viel geruhsamer angehen kann.
3. Die Odysseus-Strategie
N un erhält nicht jeder eine Einladung in die Villa Massimo, und nicht jeder findet Aufnahme in der Folkehøjskole . Doch das ist kein Grund zur Resignation. Wer ungestört nachdenken möchte, kann sich seine Orte des Rückzugs auch selbst schaffen.
Eine lange Bahnfahrt ist zum Beispiel ist eine wunderbare Gelegenheit, in aller Ruhe den Gedanken nachzuhängen (vorausgesetzt, man wird nicht von Wichtigtuern gestört, die pausenlos ins Handy blöken). Ökologisch unkorrekt, aber Muße-verheißend sind auch Langstreckenflüge, die sogar gestresste Manager dazu bringen können, ihre Mobiltelefone einmal auszuschalten. Und manchmal findet man noch Cafés, die einen nicht ständig mit Musik oder Videos berieseln, sondern jenen besonderen Zustand zwischen ruhiger Geselligkeit und Anonymität bieten, der die Kreativität fördert.
Dem Sammeln solcher Orte, an denen man »nicht nur arbeiten, sondern auch nachdenken kann«, hat sich der israelische Mathematik-Ökonom Ariel Rubinstein verschrieben. Der Vielreisende veröffentlicht auf seiner Homepage eine Liste von Coffee Places where you can think , die mittlerweile über einhundert Städte umfasst und einen weltweiten Reiseführer für Muße fördernde Kaffehäuser darstellt. 16 Wer die Liste mit eigenen Vorschlägen ergänzen will, kann einfach eine E-Mail an Rubinstein senden (
[email protected]).
Andere Mathematiker beweisen derweil, dass große Ideen an den unerwartetsten Orten entstehen. So hatte etwa der amerikanische Mathematiker Stephen Smale, der Anfang der 1960er Jahre eine Zeit lang in Rio de Janeiro arbeitete, seine besten Einfälle am Strand. Er habe dort hauptsächlich Ideen notiert und Argumente ausprobiert. »Ich war so konzentriert mit dieser Art von Überlegungen und dem Schreiben in meinem Block beschäftigt, dass das Strandleben mich nicht abgelenkt hat. Und ich konnte ja jederzeit eine Pause von der Forschung machen und schwimmen gehen.« Mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen wurde Smale in der Fachwelt berühmt (insbesondere mit seinem Beweis der sogenannten hochdimensionalen Version der Poincaré-Vermutung). Nichtsdestotrotz brachte ihm sein entspannter Arbeitsstil später Ärger ein. Politiker warfen ihm sogar vor, das Sinnieren am Strand von Rio sei eine »Verschwendung von Steuergeldern« gewesen.
Der französische Zahlentheoretiker André Weil wiederum bewies, dass man selbst im Gefängnis produktiv werden kann. 1940, als er in Untersuchungshaft saß, schrieb er an seine Frau: »Seit ich Dich das letzte Mal gesehen habe, bin ich in meinen arithmetischalgebraischen Forschungen ein gutes Stück vorangekommen – ich hoffe sogar, hier noch einige Zeit in Ruhe an dem Begonnenen weiterarbeiten zu können.« Und an anderer Stelle: »Meine mathematische Arbeit übertrifft meine kühnsten Hoffnungen, und ich bin sogar ein wenig beunruhigt, ob ich, wenn ich nur im Gefängnis so gut arbeiten kann, es zukünftig einrichten sollte, jedes Jahr zwei oder drei Monate hinter Gittern zu verbringen.« Fast neidvoll schrieb sein Kollege Élie Cartan an den Inhaftierten: »Wir haben nicht alle das Glück, so in Ruhe wie Du und ungestört arbeiten zu können.« 17
Auch wenn Cartans Bemerkung (zumindest halb) scherzhaft gemeint war, steckt in ihr doch ein Körnchen Wahrheit: Manchmal kann gerade die radikale Beschränkung unserer Freiheitsgrade der Geistesarbeit förderlich sein – wie auch Miguel de Cervantes bewies, der seinen Don Quijote im Gefängnis begann. Natürlich gilt das nur, wenn die Beschneidung der Freiheit nicht zu drastisch ausfällt. Auch möchte man niemandem ernsthaft empfehlen, sich zum Zwecke des ungestörten Nachdenkens ins Gefängnis stecken zu lassen. Dennoch halten solche Episoden eine interessante Lehre bereit: Wir hassen es zwar, wenn man die Zahl unserer Möglichkeiten einschränkt; doch zugleich kann das durchaus etwas Stimulierendes