Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
sind es nur unsere Gewohnheiten, die uns davon abhalten, die Gelegenheit zur Muße zu ergreifen.
Denn unwillkürlich sind wir geprägt vom Zeittakt unserer Gesellschaft und ihrer Vorstellung vom Glück. Beruflichen Erfolg und ein gefülltes Bankkonto halten die meisten Deutschen für wichtiger als Freiheit und Zeitwohlstand. Und statt unserem natürlichen Rhythmus zu folgen, lassen wir uns den Tagesablauf von der Uhr diktieren; wir stehen auf, wenn der Wecker klingelt, essen, wenn es »Zeit dazu« ist (und nicht, wenn wir Hunger haben), und gehen abends ins Bett, wenn die zwei kleinen Zeiger an unserem Handgelenk es befehlen. s
Von Kindesbeinen an lernen wir, die Zeitkonventionen unserer Kultur zu respektieren, und im Erwachsenenalter sind sie für uns fast wie die Luft, die wir atmen: Wir halten sie für derart selbstverständlich, dass wir uns darüber kaum je Gedanken machen. Kulturelle Gewohnheiten, so erkannte der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall, gleichen einer »stummen Sprache« 1 – einer Sprache, die von allen verstanden und respektiert wird, die uns allerdings erst zu Bewusstsein kommt, wenn wir in ein Land mit anderer kultureller »Grammatik« reisen.
Hall, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg im Pazifik und in Europa stationiert war, stolperte dort immer wieder über interkulturelle Missverständnisse. Von ihm stammt auch die Unterscheidung zwischen »monochronen« und »polychronen« Kulturen. 2 Zu ersteren zählen vor allem die westlichen Industrienationen, in denen der Tagesablauf von der Uhr diktiert wird und in denen das Geschäftsleben aus einer eng getakteten Abfolge von Terminen und Verpflichtungen besteht. Pünktlichkeit ist in monochronen Kulturen oberstes Gebot. Bei der Arbeit kommt es darauf an, sie möglichst effizient zu erledigen, und nicht so sehr darauf, ob einem die Geschäftspartner sympathisch oder unsympathisch sind.
In vielen afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern trifft man dagegen auf polychrones Zeitverständnis. Terminpläne sind dort flexibel, Pünktlichkeit hat eine andere Bedeutung, und bei Verabredungen muss man sich auf lange Wartezeiten gefasst machen. Denn wichtiger als effiziente Ergebnisse sind persönliche Beziehungen, und im Business geht es oft mehr um Status und Ansehen als um einen erfolgreichen Vertragsabschluss.
Was das in der Praxis bedeutet, erlebte ich selbst auf Reisen in Indien. Da weite Teile dieses Landes von der westlichen Tüchtigkeits- und Effizienzphilosophie noch nicht infiziert sind, kann man hier eindrückliche Erfahrungen des polychronen Zeitverständnisses sammeln. Einmal brachte ich zum Beispiel einen ganzen Vormittag in einer Bank mit dem Versuch zu, meine Reiseschecks in indische Rupien umzutauschen. Nachdem sich mit dieser herausfordernden Aufgabe vier verschiedene Schalterbeamte beschäftigt hatten, mehrere großformatige Folianten fein säuberlich mit den Nummern meiner Schecks gefüllt worden waren, ich mit dem Chef der Bank konferiert, Tee getrunken und gute zwei Stunden gewartet hatte (ich war zu dieser Zeit der einzige Kunde in der Bank), bekam ich eine blecherne Wartemarke in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, meinen Aufruf abzuwarten. Schließlich und endlich war es so weit: Über dem Auszahlungsschalter leuchtete ein Reigen bunter Lämpchen auf, dazu erklang aus einem alten Lautsprecher scheppernd die Melodie von Jingle Bells, und huldvoll winkte mich ein (fünfter) Beamter zum Empfang meines Geldes heran. Ein solches Happening vergisst man Zeit seines Lebens nicht.
Ebenso lehrreich wie die Erfahrung des entspannten Arbeitstempos in Indien war allerdings auch meine Rückkehr nach Deutschland. Nach mehreren Monaten war ich so sehr an die indischen Verhältnisse gewöhnt, dass mir hierzulande vieles irrwitzig schnell erschien. Die Eile hiesiger Bankbeamter war ebenso beeindruckend wie das Tempo der durch die Straßen donnernden Autos; und die gehetzt dreinblickenden Menschen schienen mit unglaublicher Anspannung ständig irgendetwas hinterherzujagen.
Fairerweise sollte man hinzufügen, dass ich in Deutschland vieles auch wieder schätzen lernte, das ich zuvor für selbstverständlich gehalten hatte – etwa die Tatsache, dass man Bankgeschäfte in fünf Minuten erledigen kann, dass es klare Verkehrsregeln gibt oder dass man Leitungswasser unbesorgt trinken kann. Und natürlich hielt mein Vorsatz, dem deutschen Beschleunigungswahn zu widerstehen, nur kurze Zeit. Spätestens als ich wieder
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