Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
finden. Und das geht am besten dann, wenn wir einfach mal stehen bleiben, statt wieder einem neuen Ziel nachzujagen.
Man kann sich dabei zum Beispiel an dem antiken Philosophen Epikur orientieren, der schon im 4. vorchristlichen Jahrhundert der Frage nach dem guten Leben nachging und feststellte: »Die Lust ist Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens.« Lust bestand für Epikur allerdings nicht in erster Linie in grob sinnlichem Vergnügen (obwohl er auch das nicht verschmähte), sondern vor allem in einem ruhigen Gleichmaß der Seele und der Abwesenheit von Schmerz und Begierde. Von der »Windstille« der Seele sprach der Philosoph und empfahl seinen Schülern die Kunst, die Gegenwart voll auszukosten, statt sinnlos nach immer neuen Erlebnissen zu jagen. »Wenn du Phytokles reich machen willst, dann gib ihm nicht mehr Geld, sondern nimm ihm einen Teil seiner Begierden weg« 42 , lautete einer von Epikurs Leitsätzen, oder: »Man darf das Vorhandene aus Gier nach Nichtvorhandenem nicht abwerten, sondern muss bedenken, dass auch dieses einst erstrebenswert war.« Auch dem Tod wusste der Philosoph das Bedrohliche zu nehmen: Da für uns nur Dinge relevant seien, die Wahrnehmungen und Empfindungen auslösten, habe der Tod eigentlich gar keine Bedeutung für uns; denn in ihm lösten sich jegliche Wahrnehmung und Empfindung auf. In Epikurs bestechender Logik: »Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr da.«
Wer solche Betrachtungen als zu nüchtern empfindet, setzt sich vielleicht lieber mit dem transzendenten Aspekt seines Seins auseinander. Denn auch wenn wir uns als eigenständige Individuen empfinden, so leben wir doch in vielfacher Abhängigkeit und Verbundenheit – mit unserer Familie, der Gesellschaft, der Natur und letztlich dem ganzen Kosmos. Diese Verbundenheit wahrzunehmen, ist übrigens auch der tiefere Sinn aller Meditationspraktiken. Abgesehen von den in Kapitel drei beschriebenen Wirkungen zielen sie letztlich immer auf Selbsttranszendenz, auf die Erfahrung also, dass wir stets Teil eines großen Ganzen sind, das weit über uns hinausreicht und uns im Tod überdauert.
Allerdings hat es wenig Sinn, dies nur intellektuell beschreiben oder begreifen zu wollen; vielmehr geht es darum, einen solch größeren Sinnzusammenhang in der Tiefe erfahren zu können. Und die etablierten Religionen tun letztlich nichts anderes, als Bilder und Begriffe bereitzustellen, die uns eine solche Erfahrung ermöglichen sollen (ausführlich wird das in meinem Buch Die Vermessung des Glaubens diskutiert 43 ). Egal, ob man dabei von der Präsenz Gottes (wie im Christentum) oder der Erleuchtung (wie im Buddhismus) redet – wichtig ist stets die Erkenntnis, dass unser Leben seinen Wert in sich selbst trägt und sich nicht durch die Anhäufung von Gütern oder Erfolgen »rechtfertigen« muss. Aus diesem Grund stellen auch die etablierten Religionen meist ein massives kulturelles »Beschleunigungshindernis« 44 dar. Denn sie wissen um den Wert des Menschen und darum, dass jeder Fortschritt immer auch die Gefahr des Fortschreitens von sich selbst birgt.
Genau dies ist übrigens das Geheimnis der Muße: Denn diese erleben wir immer dann, wenn wir etwas um seiner selbst willen tun und nicht aus dem Ehrgeiz heraus, irgendwohin zu gelangen oder irgendetwas erreichen zu wollen. Muße ist so betrachtet einerseits die Voraussetzung für jegliche Transzendenzerfahrung und andererseits bereits Teil dieser Erfahrung selbst – die beste Art also, sich mit sich selbst und seinem Leben zu versöhnen. Im Rest dieses Buches soll daher der Frage nachgegangen werden, wo und wie wir die Muße am besten finden – und was wir selbst tun können, um dem permanenten Beschleunigungsdenken (zumindest immer mal wieder) zu entkommen.
V
INSELN DER MUßE
A ngesicht des globalen Tempowahns ist man versucht, Asterix zu zitieren: Wir befinden uns im Jahr 2010 n. Chr. Die ganze Welt ist von den Truppen des Beschleunigungsdenkens besetzt … Die ganze Welt? Nein! Einige unbeugsame Müßiggänger hören nicht auf, dem Diktat der Uhr Widerstand zu leisten …
Tatsächlich ist, aller Globalisierung zum Trotz, die Landkarte des Zeitempfindens nicht völlig uniform. Noch immer gibt es Menschen, Orte und Kulturen, die dem Drang zur immerwährenden Beschleunigung widerstehen. Manchmal liegen diese Inseln der Muße fernab auf fremden Kontinenten; mitunter auch direkt in unserer Nachbarschaft. Und manchmal
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