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Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)

Titel: Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schnabel
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haben.
    Das ist übrigens auch der Unterschied zwischen dem Genuss der Muße auf einer Berghütte und in unserer üblichen Umgebung. Selbstverständlich kann man sich zuhause vornehmen, ein paar Tage oder Wochen auf Ablenkung zu verzichten und sich mit nichts anderem als einem guten Buch, dem Malen eines Bildes oder meinetwegen auch der Zahlentheorie zu beschäftigen. Doch schnell drängen sich wieder die verflixten Opportunitätskosten auf. Man bekommt das Gefühl, diese Aktivität gegenüber vielen anderen rechtfertigen zu müssen. Stets lauert im Hintergrund unseres Denkens die unausgesprochene Frage: Verschafft mir dieses Buch (Bild, Theorem …) mehr Befriedigung als all das, was ich sonst noch tun könnte – im Internet surfen, Fernsehen, Freunde anrufen …? Und selbst wenn man sich weiterhin auf das Buch (das Bild, die Zahlentheorie) konzentriert, beschäftigt uns dieses Abwägen unbewusst, bindet Denkressourcen und kostet damit Energie.
    Der Soziologe Hartmut Rosa, der sich über diese Zusammenhänge gründlich Gedanken gemacht hat, empfiehlt deshalb allen Muße-Suchenden die »Odysseus-Strategie«: Sich selbst zu fesseln, um den Sirenengesängen der unendlichen Möglichkeiten nicht zu verfallen. u
    Um die Muße genießen zu können, müsse man sich bewusst von einer Vielzahl möglicher Optionen abschneiden, sagt Rosa und nimmt sich selbst als bestes Beispiel dafür. »Es gibt nichts Schöneres, als wenn bei mir im Hochschwarzwald, wo ich wohne, der Strom ausfällt.« Das geschehe im Winter immer mal wieder durch Sturm oder Schneebruch. »Dann kann ich nicht an den Computer, der Fernseher funktioniert nicht – und in dieser Situation ein Buch zu lesen ist etwas ganz anderes, als wenn die Welt da draußen weiter rauscht.« 18
    Einen ähnlichen Effekt können auch landesweite Notlagen auslösen, etwa Temperaturstürze, die den Eisenbahnverkehr lahmlegen. Es macht eben einen großen Unterschied, ob man als Einzelner seinen Zug verpasst oder ob halb Deutschland unfreiwillig die Muße üben muss. Man fängt an, sich zu entspannen, kommt eventuell mit dem Nachbarn ins Gespräch, der ja ebenfalls zur Ruhe gezwungen ist, und kann so unter Umständen sehr anregende Stunden erleben.
    Wer auf solche Anlässe nicht warten will, muss selbst für eine Reduktion seiner Möglichkeiten sorgen. Also: das Telefon ausstellen, herumliegende Zeitschriften schwungvoll entsorgen, den Computer in die Besenkammer oder den Fernseher eine Zeitlang auf den Dachboden verbannen. (Ja, das darf man. Nein, man muss nicht erst nach Indien, auf die Malediven oder nach Spiekeroog fahren, um die Ruhe zum ungestörten Lesen, Malen oder Nachdenken zu finden.)
    Und wer es gar nicht zuwege bringt, sich einmal Zeit ohne äußere Verpflichtungen freizuschaufeln, kann einen weiteren Tipp von Hartmut Rosa erproben: »Es hilft, sich in den Terminkalender an manchen Tagen groß einzutragen: Nichts.« Und wenn dann jemand fragt: ›Wollen wir an diesem Tag etwas unternehmen? ‹ muss man konsequent antworten: ›Nein, da hab ich schon was vor.‹«
    Spätestens an dieser Stelle wird man allerdings mit zwei Hindernissen konfrontiert: Zum einen ist da die Langeweile, die Angst vor dem öden Nichts; zum anderen der Erwartungsdruck, die freie Zeit nun besonders gut nutzen zu müssen – sei es, um kreativ zu werden, sei es, um sich einmal »so richtig gründlich« zu entspannen.
    Doch das Müssen und die Muße sind diametral entgegengesetzte Begriffe (auch wenn sie ähnlich klingen); das wichtigste Kennzeichen der Muße ist ja gerade das schöne Gefühl, einmal nichts Besonderes leisten zu müssen – nicht einmal auszuspannen. In der Regel aber sind wir es so gewohnt, all unsere Handlungen einem Zweck und Ziel unterzuordnen, dass es enorm schwerfällt, uns davon freizumachen. 19
    Da hilft es, sich an den alten Griechen zu orientieren, die eine ganz andere Werthaltung vertraten. Sie verstanden Mußezeiten nicht als notwendige Regeneration für das Arbeitsleben; sie sahen umgekehrt die Arbeit als zwangsläufiges Übel, um das Ziel des Lebens, die Muße, zu verwirklichen. Muße bedeutete damals allerdings nicht Däumchendrehen, sondern im Sinne des griechischen Begriffs scholé die produktive Beschäftigung mit Musik, Kunst oder Religion.
    Diese Art von Muße war für die griechischen Philosophen die höchste Form geistigen Lebens und der Inbegriff des Glücks. Denn in solchen Momenten konnte man die Tiefendimensionen der eigenen Existenz ausloten und der

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