Muster - Steffen-Buch
mich, ob ich sie je wieder sehen würde.
Ich öffnete die Haustür vorsichtig einen Spalt weit, schlüpfte hindurch und ging auf Zehenspitzen die Treppe zur Garage hinunter. Ich wartete darauf, dass Mutter jede Sekunde die Treppe hinunterstürmen und mich auf dem Betonfußboden grün und blau schlagen würde. Sie kam nicht.
Nachdem ich meine Arbeitskleidung angezogen hatte, schlich ich nach oben in die Küche und machte mich an den Abwasch des Geschirrs vom Mittagessen. Ich wusste nicht, wo Mutter war und ich spitzte angestrengt die Ohren, um herauszufinden, wo sie sich aufhielt. Während ich das Geschirr spülte, lief es mir kalt den Rücken herunter.
Meine Hände zitterten und ich konnte mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Schließlich hörte ich Mutter aus dem Elternschlafzimmer kommen und über den Flur zur Küche gehen. Für einen flüchtigen Moment sah ich aus dem Fenster. Ich konnte das Gelächter und die Schreie der Kinder hören, die draußen spielten. Ich schloss einen Au-43
genblick lang die Augen und stellte mir vor, ich sei einer von ihnen.
Mir wurde es warm ums Herz. Ich lächelte.
Mir stockte der Atem, als ich spürte, wie Mutter mir in den Nacken blies. Ich ließ vor Schreck einen Teller fallen, konnte ihn jedoch auf-fangen, ehe er auf dem Boden aufschlug. »Du bist ein schnelles kleines Scheißerchen, nicht wahr?«, zischte sie. »Du kannst schnell laufen und findest Zeit, um Essen zu betteln. Nun, wir werden mal sehen, wie schnell du wirklich bist.« Ich spannte alle Muskeln an und wappnete mich gegen ihre Schläge. Als sie mich nicht schlug, dachte ich, dass sie wieder zu ihrer TV-Show zurückkehren würde, aber diesen Gefallen tat sie mir nicht. Mutter blieb Zentimeter hinter mir stehen und beobachtete jede Bewegung, die ich machte. Ich konnte ihr Spiegelbild im Kü-
chenfenster sehen. Mutter sah es auch und lächelte. Ich machte mir vor Angst in die Hose.
Als ich mit dem Abwasch fertig war, begann ich, das Badezimmer zu putzen. Mutter setzte sich auf die Toilette und sah mir zu, während ich die Badewanne schrubbte. Während ich auf allen vieren die Fliesen wischte, stand sie ruhig und still hinter mir. Ich wartete darauf, dass sie um mich herumgehen und mir ins Gesicht treten würde, aber sie tat es nicht. Während ich mit meiner Arbeit fortfuhr, wurde meine Angst immer größer. Ich wusste, dass Mutter mich schlagen würde, aber ich wusste nicht, wie, wann und wo. Die Zeit, die ich zum Putzen des Badezimmers brauchte, erschien mir wie eine Ewigkeit. Als ich endlich damit fertig war, zitterte ich am ganzen Körper. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf Mutter. Wann immer ich den Mut fand, zu Mutter aufzublicken, lächelte sie und sagte: »Schneller, junger Mann. Du musst dich viel schneller bewegen.« Als es Zeit zum Abendessen war, hatte mich die Angst fix und fertig gemacht. Mir fielen die Augen zu, während ich darauf wartete, dass Mutter mich hinaufrief und mir befahl, den Tisch abzuräumen und das Geschirr vom Abendessen zu spülen. Als ich allein in der unterirdischen Garage stand, musste ich ganz nötig zur Toilette. Ich hätte etwas darum gegeben, nach oben rennen und aufs Klo gehen zu können, aber ich wusste, dass ich mich in meinem Gefängnis nicht rühren durfte, solange Mutter es mir nicht erlaubte. »Vielleicht ist es das, was sie mit mir vorhat«, dachte ich.
»Vielleicht will sie, dass ich meinen eigenen Urin trinke.« Zuerst erschien mir der Gedanke absurd, aber ich wusste, dass ich bei Mutter auf alles gefasst sein musste. Je angestrengter ich versuchte, mich darauf zu 44
konzentrieren, welche Attentate sie planen könnte, desto mehr verließ mich meine Kraft. Dann wurde mir auf einmal klar, warum Mutter mir auf Schritt und Tritt gefolgt war. Sie wollte mich permanent unter Druck setzen und mich im Unklaren darüber lassen, wann und wo sie zuschlagen würde. Ehe ich eine Verteidigungsstrategie ersinnen konnte, brüllte Mutter von oben, dass ich hinaufkommen sollte. In der Küche sagte sie, dass ich ihr nur entkommen könnte, wenn ich mich mit Licht-geschwindigkeit bewegte, und besser daran täte, das Geschirr in Rekordzeit abzuspülen. »Natürlich«, keifte sie, »versteht es sich von selbst, dass du heute kein Abendessen bekommst, aber keine Angst, ich kann dir deinen Hunger austreiben.«
Als ich mit meiner Arbeit fertig war, befahl Mutter mir, unten zu warten. Ich stand mit dem Rücken an der harten Wand und zerbrach mir den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher