Muster - Steffen-Buch
gefrorenen Kürbiskuchen oder ein Taco in der Hand hielt, war ich der König, und 48
wie ein König auf seinem Thron blickte ich verzückt auf mein Essen und lächelte.
49
5.
Der Unfall
Die Ereignisse des Sommers 1971 gaben den Ton vor für die restliche Zeit, in der ich bei Mutter lebte.
Ich war noch keine elf Jahre alt, wusste aber bereits sehr genau, welche Formen der Bestrafung ich für meine jeweiligen »Vergehen« zu erwarten hatte. Die Zeit, die Mutter für meine vielfältigen Pflichten veranschlagte, zu überschreiten, bedeutete, nichts zu essen zu bekommen. Wenn ich sie oder einen meiner Brüder ohne Erlaubnis ansah, setzte es eine Ohrfeige. Wenn ich beim Stehlen von Essen erwischt wurde, war ich darauf gefasst, dass Mutter entweder eine altbewährte Form der Bestrafung wählen oder sich eine neue Gemeinheit ausdenken würde. Die meiste Zeit schien Mutter jedoch einem genauen Plan zu folgen, und ich konnte erahnen, was sie als Nächstes im Sinn hatte.
Wenn ich vermutete, dass sie mich attackieren würde, wappnete ich mich gegen ihre Schläge, indem ich jeden Muskel meines Körpers anspannte.
Als der Juli anbrach, ging meine Kraft allmählich zur Neige. Essen war inzwischen kaum mehr als eine Phantasievorstellung. Ich bekam selten auch nur die Reste vom Frühstück, ganz gleich, wie hart ich arbeitete, und ein Mittagessen gab's für mich schon gar nicht. Ein Abendessen alle drei Tage war der Durchschnitt.
Der tragische Julitag, von dem ich nun berichten werde, hatte zu-nächst wie jeder andere Tag in meinem mittlerweile sklavenartigen Leben begonnen. Ich hatte drei Tage lang nichts gegessen. Da wir Sommerferien hatten, waren meine Möglichkeiten, an Essen heranzukommen, gleich null. Wie immer saß ich zur Abendessenszeit mit den Händen unter dem Po am Fuß der Treppe und hörte zu, wie »die Familie« aß. Mutter verlangte nämlich jetzt, dass ich in einer »Kriegsgefangenenstellung« mit gesenktem Kopf auf meinen Händen saß. Ich muss eingeschlafen sein, denn ich wurde plötzlich von Mutters Keifen ge-weckt: »Komm rauf! Beweg deinen Arsch hierher!«, brüllte sie.
Bereits bei der ersten Silbe ihres Befehls war ich auf den Beinen und sprintete die Treppe hoch. Ich betete, dass ich heute Abend etwas, irgendetwas bekommen würde, das meinen Hunger stillte.
50
Ich hatte begonnen, in fieberhafter Eile das Geschirr vom Esszim-mertisch abzuräumen, als Mutter mich in die Küche rief. Ich senkte den Kopf, als sie mir das Zeitlimit für meine Verrichtungen verkündete.
»Ich gebe dir zwanzig Minuten! Eine Minute, eine Sekunde länger, und du bekommst wieder nichts zu essen! Ist das klar?«
»Ja, Ma'am.«
»Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«, blaffte sie. Ich gehorchte und hob langsam den Kopf. Als ich zu ihr aufsah, bemerkte ich Russel, der auf Mutters linkem Bein hin und her schaukelte. Er starrte mich mit kalten Augen an. Russel war zwar erst vier oder fünf Jahre alt, aber er war Mutters »kleiner Nazi« geworden. Er beobachtete jede Bewegung, die ich machte, und achtete darauf, dass ich kein Essen stahl. Mitunter erfand er Geschichten, die er Mutter erzählte, damit er zusehen konnte, wie ich bestraft wurde. Es war wirklich nicht Russels Fehler. Ich wusste, dass Mutter ihm eine Gehirnwäsche verpasst hatte, aber hasste ihn beinah ebenso wie Mutter. »Hast du mich gehört?«, schrie Mutter.
»Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Als ich sie ansah, packte Mutter ein Tranchiermesser, das auf der Arbeitsfläche lag, und schrie: »Wenn du nicht rechtzeitig fertig wirst, bring ich dich um!«
Ihre Worte hatten keine Wirkung auf mich. Sie hatte seit fast einer Woche immer wieder das Gleiche gesagt. Selbst Russel beeindruckte ihre Drohung nicht. Er schaukelte weiter auf Mutters Bein, so als ritte er auf einem Schaukelpferd. Sie war anscheinend nicht zufrieden mit ihrer alten Taktik, weil sie fluchte, während die Uhr vor sich hintickte und meine Zeit verschlang. Ich wünschte mir, dass sie einfach den Rand halten und mich arbeiten lassen würde. Verzweifelt versuchte ich, ihre Zeitvorgaben einzuhalten. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als etwas zu essen zu bekommen. Ich hatte Angst davor, noch einmal ins Bett gehen zu müssen, ohne etwas im Magen zu haben.
Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht! Ich strengte mich an, meinen Blick auf Mutter zu richten. Sie hatte begonnen, mit dem Messer, das sie in der rechten Hand hielt, herumzufuchteln. Ich war immer noch nicht übermäßig
Weitere Kostenlose Bücher