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Muster - Steffen-Buch

Muster - Steffen-Buch

Titel: Muster - Steffen-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raidy
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und Wasser. Nachdem ich die halb verdau-ten Fleischstücke gekaut hatte, nahm ich die Schüssel, legte den Kopf zurück und schüttete mir den Rest des Erbrochenen in den Rachen. Ich schloss die Augen und kämpfte mit aller Kraft dagegen an, dass mir alles wieder hoch kam. Ich öffnete die Augen erst wieder, als ich sicher 41

    war, dass ich alles bei mir behalten konnte. Als ich sie schließlich öffnete, warf ich einen Blick auf Vater, der mir den Rücken kehrte, um meine Qualen nicht mit ansehen zu müssen. In diesem Moment hasste ich Mutter unendlich, aber Vater hasste ich sogar noch mehr. Der Mann, der mir in der Vergangenheit geholfen hatte, stand einfach wie ein Holzklotz da, während sein Sohn etwas aß, das nicht einmal ein Hund anrühren würde.
    Nachdem ich die Schüssel geleert hatte, kam Mutter im Morgen-mantel wieder und warf mir einen Stapel Zeitungen zu. Sie verkündete, dass das Zeitungspapier jetzt meine Decke sei und der Fußboden unter dem Tisch mein Bett. Wieder warf ich Vater einen Blick zu, aber er tat so, als sei ich Luft. Ich riss mich zusammen, um in Gegenwart meiner Eltern keine Tränen zu vergießen, kroch in voller Montur unter den Tisch und deckte mich wie eine Ratte im Käfig mit den Zeitungen zu.
    Monatelang schlief ich unter dem Küchentisch neben einer Kiste mit Katzenstreu. Bald lernte ich, die Zeitungen zu meinem Vorteil zu nutzen. Wenn ich sie um mich herumwickelte, hielten sie meinen Körper warm. Schließlich beschloss Mutter, dass ich nunmehr nicht mehr privilegiert genug sei, in einer der oberen Etagen zu schlafen, und verbannte mich in die Garage im Untergeschoss. Als Schlafgelegenheit diente mir jetzt ein altes Feldbett. Um mich warm zu halten, versuchte ich, mit dem Kopf nahe am Gasofen zu schlafen. Nach ein paar kalten Nächten fand ich jedoch heraus, dass ich mich am besten vor der Kälte schützen konnte, wenn ich mich in Embryonalstellung zusammenkauer-te. Manchmal wachte ich nachts auf und versuchte, mir vorzustellen, wieder ein ganzer Mensch zu sein, der unter einer warmen Decke schläft und weiß, dass er in Sicherheit ist und geliebt wird. Meine Vorstellungskraft half mir für eine Weile, aber die kalten Nächte brachten mich immer wieder in die raue Wirklichkeit zurück. Ich wusste, dass mir niemand helfen konnte. Meine Lehrer nicht, meine sogenann-ten Brüder nicht und selbst Vater nicht. Ich war ganz auf mich allein gestellt, und jede Nacht betete ich zu Gott, dass mein Körper und meine Seele stark sein mögen. In der Dunkelheit der Garage lag ich auf dem hölzernen Feldbett und bibberte, bis ich in einen unruhigen Schlaf fiel.
    Als ich nachts wieder einmal vor mich hin fantasierte, kam ich auf die Idee, dass ich auf dem Schulweg um Essen betteln könnte. Mutter inspizierte zwar jeden Tag auf die beschriebene Art meinen Mageninhalt, wenn ich aus der Schule kam, aber ich dachte, dass alles, was ich 42

    am Morgen aß, bis zum Nachmittag verdaut sein würde. Also gab ich mir Mühe, möglichst schnell zur Schule zu rennen, damit ich mehr Zeit für meine Jagd auf Nahrung hatte. Ich wählte unterschiedliche Routen und klingelte an Türen. Ich sagte den Frauen, die die Tür öffneten, ich hätte meine Lunchbox verloren. Meistens hatte ich mit meiner Taktik Erfolg, und sie gaben mir etwas zu essen. Ich konnte diesen Frauen ansehen, dass sie Mitleid mit mir hatten. Ich verwendete bewusst einen falschen Namen, damit niemand erfuhr, wer ich war. Ich kam wochen-lang damit durch, bis ich eines Tages auf eine Frau traf, die Mutter kannte. Meine altbewährte Geschichte »Ich habe meine Lunchbox verloren. Könnten Sie mir etwas zu essen geben?« fiel wie ein Karten-haus in sich zusammen. Noch ehe ich über die Türschwelle getreten war, wusste ich, dass sie Mutter anrufen würde.
    An diesem Tag betete ich in der Schule, dass das Ende der Welt kommen möge. Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und stellte mir vor, wie Mutter auf der Couch lag und fernsah und Stunde um Stunde betrunkener wurde, während sie sich Gemeinheiten ausdachte, die sie mir antun konnte, wenn ich nach der Schule in ihr Haus kam. Als ich an jenem Nachmittag von der Schule nach Hause lief, waren meine Füße bleischwer, so als steckten sie in Betonklötzen. Bei jedem Schritt betete ich, dass Mutters Bekannte sie nicht angerufen oder mich nicht erkannt hatte. Über mir war der blaue Himmel und ich spürte die Son-nenstrahlen warm im Rücken. Als ich zu Mutters Haus kam, schaute ich zur Sonne auf und fragte

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