Muster - Steffen-Buch
verängstigt. Auch das hatte sie vorher schon getan. »Schau ihr in die Augen«, dachte ich. Ich tat es, aber sie wirkten normal, für ihre Verhältnisse jedenfalls - sie waren leicht getrübt und glasig. Doch mein Instinkt sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Obwohl ich nicht glaubte, dass sie mich schlagen würde, verkrampfte sich mein ganzer Körper. Schließlich bemerkte ich, was nicht stimmte. Teils 51
wegen Russels Schaukelbewegungen und teils wegen ihrer Armbewe-gungen, die sie mit dem Messer vollführte, begann Mutters ganzer Körper hin und her zu wanken. Einen Augenblick lang dachte ich, dass sie vom Stuhl fallen würde.
Sie versuchte, ihr Gleichgewicht wieder zu finden, und verscheuch-te Russel von ihrem Bein. Dann schrie sie mich an. Mittlerweile schwankte ihr Oberkörper völlig unkontrolliert hin und her. Ich vergaß ihre Drohungen und stellte mir vor, dass die alte Schnapsnase sich auf die Schnauze legen würde. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf Mutters Gesicht. Aus dem Augenwinkel sah ich verschwommen, wie ihr ein Gegenstand aus der Hand fiel. Ein stechender Schmerz explodierte in meinem Oberbauch. Ich versuchte stehen zu bleiben, aber mir knickten die Beine weg, und es wurde Nacht um mich.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich, wie mir etwas Warmes aus dem Bauch floss. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich wusste, wo ich war. Ich saß auf der Toilette. Ich wandte mich zu Russel um, der »David stirbt. Der Junge stirbt«, zu singen begann. Ich sah auf meinen Bauch. Mutter kniete vor mir und drückte hastig eine dicke Lage Gaze auf eine Stelle meines Bauches, aus der dunkelrotes Blut herausschoss. Ich versuchte, etwas zu sagen. Ich wusste, dass es ein Unfall gewesen war. Ich wollte sie wissen lassen, dass ich ihr verzeihe, aber ich fühlte mich zu schwach, um zu sprechen. Mein Kopf sank immer wieder auf meine Brust, wenngleich ich versuchte, ihn hoch-zuhalten. Ich verlor das Gefühl für die Zeit, als mir wieder schwarz vor Augen wurde.
Als ich das Bewusstsein wieder erlangte, kniete Mutter immer noch vor mir und wickelte mir gerade ein Tuch um den Bauch. Sie wusste genau, was sie tat. Als wir noch kleiner gewesen waren, hatte Mutter Ron, Stan und mir viele Male erzählt, dass sie Krankenschwester hatte werden wollen, bevor sie Vater kennen lernte. Wann immer sie im Haushalt mit einem Unfall konfrontiert wurde, hatte sie alles vollkommen unter Kontrolle. Ich zweifelte nicht eine Sekunde lang an ihren medizinischen Fähigkeiten. Ich wartete einfach darauf, dass sie mich ins Auto packen und ins Krankenhaus bringen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Ich empfand ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung. Mein Instinkt sagte mir, dass es vorbei war. Die ganze Farce hatte ein Ende gefunden und ich würde nicht mehr wie ein Sklave leben 52
müssen. Selbst Mutter konnte über diesen Vorfall keine Lügen auftischen. Ich hatte das Gefühl, dass der Unfall mich befreit hatte.
Mutter brauchte fast eine halbe Stunde, um meine Wunde zu versorgen. Aus ihren Augen sprach keine Reue. Ich dachte, dass sie zumindest versuchen würde, mich mit sanfter Stimme zu trösten. Doch sie sah mich ohne Gefühlsregung an, stand auf, wusch sich die Hände und sagte, dass ich jetzt dreißig Minuten hätte, um den Abwasch zu been-den. Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu verstehen, was sie gesagt hatte. Nach ein paar Sekunden drang Mutters Botschaft mir ins Bewusstsein. Ebenso wie vor ein paar Jahren, als sie mir den Arm ausge-renkt hatte, war Mutter nicht bereit, zuzugeben, was passiert war.
Ich hatte keine Zeit für Selbstmitleid. Die Uhr lief. Ich stand auf, schwankte ein paar Sekunden lang und wankte dann in die Küche. Bei jedem Schritt schoss mir eine Schmerzwelle durch den Brustkorb, und Blut sickerte durch mein zerrissenes T-Shirt. Als ich die Spüle erreichte, beugte ich mich vor und schnaufte wie ein alter Hund.
Ich hörte, wie Vater im Wohnzimmer in der Zeitung blätterte. Ich tat einen schmerzhaften tiefen Atemzug und hoffte, dass ich es bis zu Dad schaffen würde. Doch das Atmen strengte mich zu sehr an und ich stürzte zu Boden. Da wurde mir klar, das ich kurz und flach atmen musste. Ich rappelte mich wieder auf und wankte ins Wohnzimmer. Auf der Couch saß mein Held. Ich wusste, das er sich um Mutter kümmern und mich ins Krankenhaus bringen würde. Ich stand vor Vater und wartete darauf, dass er die Seite umblättern und mich erblicken würde.
Als er es tat, stotterte ich:
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