Muster - Steffen-Buch
»Vater... Mu... Mu... Mutter hat mir mit einem Messer in den Bauch gestochen.«
Er zuckte nicht mit der Wimper. »Warum?«, fragte er nur.
»Sie hat gesagt, dass sie... mich umbringt, wenn ich den Abwasch nicht rechtzeitig fertig habe.«
Die Zeit stand still. Ich hörte, wie Vater hinter der Zeitung nach Luft schnappte. Er räusperte sich, ehe er sagte: »Nun... ahm... du solltest besser wieder in die Küche gehen und den Abwasch machen.« Ich beugte mich vor, um seine Worte in mich aufzunehmen. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gehört hatte. Vater muss meine Verwir-rung gespürt haben, als er die Zeitung zusammenraffte und seine Stimme erhob: »Herrgott noch mal! Weiß Mutter, dass du hier bist und mit mir redest? Du solltest besser wieder in die Küche gehen und der Abwasch machen. Verdammt, Junge, wir dürfen nichts tun, das sie noch 53
mehr aufregt! Ich kann das heute Abend wirklich nicht gebrauchen.«
Vater hielt eine Sekunde lang inne, holte tief Luft, senkte die Stimme und flüsterte: »Weißt du was, du gehst jetzt wieder in die Küche und spülst ab. Ich werd ihr nicht sagen, dass du's mir erzählt hast, okay?
Dies wird unser kleines Geheimnis sein. Geh einfach nur wieder in die Küche und mach den Abwasch. Geh jetzt, ehe sie uns beide erwischt.
Geh!«
Ich stand wie vom Donner gerührt vor Vater. Er sah mich nicht einmal an und verkroch sich wieder hinter seiner Zeitung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er wenigstens eine Ecke der Zeitung um-schlagen und mir in die Augen schauen könnte. Dann würde er wissen, wie dreckig es mir ging. Er würde meine Schmerzen mitempfinden und erkennen, wie verzweifelt ich seine Hilfe brauchte. Mir war jedoch klar, dass Mutter ihn wie immer unter Kontrolle hatte, wie sie alles kon-trollierte, das in ihrem Haus geschah. Vater hielt sich an die oberste Regel der »Familie«, die wir beide nur zu gut kannten: Wenn wir ein Problem ignorieren, dann ist dieses Problem einfach nicht vorhanden.
Während ich vor Vater stand und nicht wusste, was ich als Nächstes tun sollte, blickte ich nach unten und sah Blutflecken auf dem Teppich, dem guten Stück der Familie. Ich hatte im Grunde meines Herzens geglaubt, dass er mich in die Arme nehmen und wegbringen würde. Ich hatte mir sogar vorgestellt, dass er sich das Hemd vom Leib reißen würde, um seine wahre Identität zu offenbaren, und dann wie Superman durch die Luft fliegen würde.
Ich wandte mich ab. Ich hatte all meinen Respekt vor Vater verloren. Der Retter, den ich so lange in ihm gesehen hatte, war ein Feigling.
Ich war wütender auf ihn als auf Mutter. Ich wünschte mir, dass ich irgendwie wegfliegen könnte, aber die pochenden Schmerzen holten mich in die Wirklichkeit zurück.
Ich spülte das Geschirr so schnell, wie es mein Körper zuließ. Ich kapierte bald, dass es stechende Schmerzen in meinem Oberbauch auslöste, wenn ich die Unterarme bewegte. Wenn ich zum zweiten Becken trat, um das Geschirr abzuspülen, schoss eine weitere Schmerzwelle durch meinen Körper. Ich spürte, wie mich meine letzte Kraft verließ. Als ich Mutters Zeitlimit überschritten hatte, verließ mich auch die Hoffnung, etwas zu essen zu bekommen.
Ich wollte mich einfach hinlegen und sterben, aber das Gelöbnis, das ich Jahre zuvor abgelegt hatte, hielt mich aufrecht. Ich wollte der 54
Hexe zeigen, dass sie mich nur besiegen konnte, wenn ich starb, und ich war entschlossen, nicht klein beizugeben und bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Nach einer Weile fand ich heraus, dass ich den Druck auf meiner Brust etwas lindern konnte, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und mit dem Oberkörper über den Rand der Spüle beugte. Anstatt alle paar Sekunden zur Seite zu treten, wusch ich ein paar Teller nacheinander ab und trat dann zum zweiten Becken, um sie alle auf einmal abzuspülen. Nachdem ich das Geschirr abgetrocknet hatte, fürchtete ich mich davor, sie in den Schrank zu stellen. Die Oberschrän-ke befanden sich über meinem Kopf, und ich wusste, dass es mir große Schmerzen bereiten würde, wenn ich die Arme ausstreckte, um an sie heranzukommen. Ich nahm einen kleinen Teller, stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte, die Arme über den Kopf zu heben, um den Teller wegzustellen. Ich schaffte es beinahe, aber ich hatte zu starke Schmerzen. Ich brach auf dem Fußboden zusammen.
Mein T-Shirt war inzwischen blutdurchtränkt. Als ich versuchte, mich wieder aufzurappeln, verspürte ich Vaters starke Hände, die mir
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