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Muster - Steffen-Buch

Muster - Steffen-Buch

Titel: Muster - Steffen-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raidy
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konzentrierte mich voll darauf, meine Selbstheilungskräfte mit positiven Gedanken 58

    zu mobilisieren. Irgendwie wusste ich, dass die Wunde heilen würde.
    Ich war stolz auf mich. Ich stellte mir vor, ich sei eine Figur in einem Comicheft, die große Hindernisse überwand und Katastrophen überleb-te. Bald fiel mir der Kopf auf die Brust und ich schlief ein. Ich hatte einen Traum: Ich sah alles in leuchtenden Farben und flog durch die Luft. Ich trug einen roten Umhang... Ich war Superman.
    59

6.
    Wenn Vater außer Haus ist
    Nach dem Vorfall mit dem Messerstich war Vater immer seltener zu Hause und verbrachte immer mehr Zeit in der Feuerwache. Er hatte stets eine Entschuldigung parat, aber ich glaubte ihm nicht. Ich zitterte oft vor Angst, wenn ich in der Garage saß, und hoffte, dass er aus irgendeinem Grund nicht weggehen würde. Trotz allem was geschehen war, hatte ich immer noch das Gefühl, er wäre mein Beschützer. Wenn er zu Hause war, tat mir Mutter nur etwa halb so viel an, wie in den Zeiten, in denen er weg war.
    Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mir abends beim Abwasch zu helfen, wenn er zu Hause war. Vater spülte und ich trocknete ab. Wenn wir bei der Arbeit miteinander redeten, flüsterten wir, damit Mutter und meine Brüder uns nicht hören konnten. Manchmal vergingen mehrere Minuten, bis wir uns trauten, etwas zu sagen. Wir wollten sichergehen, dass die Luft rein war.
    Vater brach immer das Eis. »Wie geht's dir, Tiger?«, sagte er.
    Wenn ich den alten Namen hörte, den Vater mir gegeben hatte, als ich noch ganz klein war, musste ich immer lächeln. »Geht so«, gab ich zurück.
    »Hast du heute etwas zu essen bekommen?«, fragte er oft. Ich schüttelte gewöhnlich den Kopf.
    »Keine Angst«, sagte er. »Eines Tages werden du und ich aus diesem Irrenhaus rauskommen.«
    Ich wusste, dass Vater es hasste, zu Hause zu sein, und ich hatte das Gefühl, es sei alles meine Schuld. Ich sagte, dass ich ein guter Junge sei und kein Essen mehr stehlen würde, und versprach, mir mehr Mühe zu geben und meine Aufgaben besser zu erledigen. Wenn ich diese Dinge sagte, lächelte er immer und versicherte mir, dass es nicht meine Schuld sei.
    Manchmal hatte ich beim Abtrocknen wieder einen Hoffnungsschimmer. Ich wusste, dass Vater vermutlich nichts gegen Mutter unter-nehmen würde, aber wenn ich neben ihm stand, fühlte ich mich sicher.
    Wie bei allem Guten, das mir widerfuhr, schob Mutter auch hier wieder einen Riegel vor. Sie beharrte darauf, dass »der Junge« keine Hilfe brauchte. Sie beklagte sich, dass Vater mir zu viel Aufmerksam-60

    keit schenkte und sich nicht genug um die anderen Familienmitglieder kümmerte. Vater gab kampflos auf. Mutter hatte die ganze Familie jetzt völlig in der Hand.
    Nach einer Weile blieb Vater nicht einmal mehr an seinen freien Tagen zu Hause. Er kam nur für ein paar Minuten nach Hause. Nachdem er nach meinen Brüdern gesehen hatte, suchte er nach mir, wo immer ich gerade meine Fronarbeit erledigte, sprach ein paar Worte mit mir und machte sich dann wieder aus dem Staub. Vater brauchte für seinen Zwischenstopp zu Hause nicht mehr als zehn Minuten. Ansonsten suchte er Zuflucht vor Mutter, gewöhnlich in einer Bar. Wenn Vater mit mir sprach, erzählte er mir öfter von seinen Plänen, die Familie mit mir zu verlassen. Das brachte mich immer zum Lächeln, aber im Grunde meines Herzens wusste ich, dass es sich nur um Phantasievorstellungen handelte.
    Eines Tages beugte er sich zu mir herab, um mir zu sagen, wie Leid es ihm täte. Ich schaute ihm ins Gesicht. Es machte mir Angst, wie sehr Vater sich verändert hatte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Gesicht und Hals waren puterrot. Vaters Schultern, die einmal breit und muskulös gewesen waren, hingen jetzt schlaff herunter. Sein ehe-mals pechschwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Ehe er an jenem Tag ging, schlang ich die Arme um ihn. Ich wusste nicht, wann ich ihn wieder sehen würde.
    Als ich an jenem Tag mit dem Abwasch fertig war, machte ich, dass ich nach unten kam. Mutter hatte mir befohlen, meine abgewetzten Kleider und einen Haufen stinkender Putztücher zu waschen. Doch ich war so traurig darüber, dass Vater fortgegangen war, dass ich mich in dem Haufen Tücher eingrub und weinte. Ich betete, dass er wieder-kommen und mich mitnehmen möge. Nach ein paar Minuten rappelte ich mich auf und begann, meine Kleider, die so viele Löcher hatten wie ein Schweizer Käse, zu schrubben. Ich

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