Mustererkennung
saß und im stillen das Entenmantra vor sich hin sprach, entdeckte sie plötzlich ein Frame-Grab von der Größe einer Geschäftskarte am Polyester-Uniformblazer einer erschöpft aussehenden Schwarzen, mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Mit dem Mantra versuchte Cayce damals eine immer
wiederkehrende Phantasie zu verscheuchen: daß sie mit rein—
stem Anthrax-Pulver gefüllte Glühbirnen auf die U-Bahngleise werfen würden, wo das Zeug, wie ihr Win einmal erklärt hatte, binnen weniger Stunden von der Fourteenth bis zur Fifty-Ninth Street driften würde – das hatte die Army offenbar in den sechziger Jahren experimentell nachgewiesen.
Die Schwarze, die ihren Blick bemerkt und sie als Mit—
Cliphead identifiziert hatte, nickte ihr zu, und dieses Indiz dafür, wie viele Menschen die Clips verfolgten und was für ein seltsam unsichtbares Phänomen das war, erlöste Cayce aus ihrem inneren Dunkel.
Inzwischen sind es noch viel mehr Menschen, trotz des – in
Cayces Augen nur begrüßenswerten – Schweigens der etablierten Medien. Wenn doch einmal Medienleute das Phänomen aufzuspießen versuchen, flutscht es ihnen weg wie eine einzelne Nudel. Es ist wie eine Motte unter einem zum Aufspüren massiver Flugobjekte entwickelten Radar: eine Art Geist oder »Schwarzer Gast« (wie laut Damien Hacker und ihre autono—meren Kreationen in China genannt werden).
Formate, die sich um Lifestyle, Pop-Kultur und aufgeblasene
Mini-Mysterien drehen, haben die Story gebracht, unterlegt mit fragwürdigen Clip-Sequenzen. Was jedoch keinerlei Zuschauer-reaktion auslöste (außer natürlich im F:F:F, wo die Sequenzen zerrupft wurden und lange, leidenschaftliche Darlegungen provozierten, warum es von totaler Ignoranz zeuge, etwa #23
vor #58 zu setzen). Clipheads rekrutieren sich offenbar haupt-sächlich durch Mundpropaganda oder aber, wie in Cayces Fall, durch die Zufallsbegegnung mit einem Clip oder einem einzelnen Frame.
Cayce stieß erstmals auf ein Fragment, als sie bei einer Party in der NoLiTa-Galerie aus der völlig überfluteten Unisex-Toilette kam, in jenem seltsamen November. Während sie sich noch fragte, wie sie ihre Schuhsohlen sterilisieren könnte, und sich ermahnte, sie nie wieder zu berühren, bemerkte sie zwei Personen, die sich um eine dritte drängten, einen Mann im Rollkragenpullover, der, in der Pose der Heiligen Drei Könige an der Krippe, einen tragbaren DVD-Spieler vor sich hielt.
Und im Vorbeigehen sah sie dort auf dem Schirm dieses hei—
ligen Gefäßes ein Gesicht. Sie vergaß augenblicklich alle Angst vor Anthrax, HIV und Ebola, blieb automatisch stehen und versuchte durch ein albernes Ententänzchen, Netzhaut und Pixel optimal aufeinander auszurichten.
»Was ist das?« fragte sie. Seitenblick eines Mädchens mit
Hängelidern, scharfer Raubvogelnase und einem funkelnden
Edelstahlstecker unter der Unterlippe. »Clip«, sagte das Mädchen, und damit fing für Cayce alles an.
Sie verließ die Galerie im Besitz der URL einer Site, wo alle bisher gefundenen Fragmente abrufbar waren.
Vor ihnen jetzt, im feuchten Abendlicht, ein rotierendes
Blaulicht, wie eine Warnung vor einem Wirbel oder Strudel …
Sie sind auf einer großen Durchgangsstraße, wo der vielspu—
rige Verkehr nahezu steht. Der Blue-Ant-Wagen bremst, hält,
wird von hinten eingequetscht, kriecht dann zentimeterweise
weiter.
Als sie die Unfallstelle passieren, sieht Cayce ein knallgelbes Motorrad auf der Seite liegen, mit seltsam verdrehter Vorder-gabel. Das wirbelnde Blaulicht steckt an einem dünnen Mast; er gehört zu einem in der Nähe geparkten größeren, sichtlich offiziellen Motorrad, und sie erkennt, daß es sich um ein Not-arztfahrzeug handelt, eine Spiegelwelterfindung, um eine Unfallstelle auch durch den dichtesten Verkehr erreichen zu können.
Der Notarzt, in einer Belstaff-Jacke mit riesigen Reflektor—
streifen, kniet bei dem gestürzten Fahrer, dessen Helm daneben auf dem Bürgersteig liegt. Der Hals des Unfallopfers ist mit einem Schaumstoffkragen immobilisiert. Der Notarzt verab-reicht dem Mann mittels einer Flasche und einer Atemmaske Sauerstoff, und Cayce hört jetzt hinter sich das insistierende Tuten eines Spiegelwelt-Krankenwagens. Und sieht einen Moment lang das bewußtlose, unversehrte Gesicht; die untere Hälfte ist halb von der transparenten Maske verdeckt, der
Abendregen fällt auf geschlossene Lider. Und sie weiß, daß
dieser Fremde jetzt vielleicht im extremsten aller Schwellenbe-reiche ist,
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