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Mustererkennung

Mustererkennung

Titel: Mustererkennung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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am Rand des Nichtseins oder im Begriff, in ein Sein einzutreten, von dem sie keine Vorstellung hat.
    Sie kann nicht erkennen, was ihn erwischt hat oder wogegen
    er geprallt sein könnte. Aber vielleicht hat sich ja die Straße selbst aufgebäumt und ihn zu Fall gebracht. Sowas tun nicht immer nur die Dinge, die wir am meisten fürchten, macht sie sich klar.
     
    »Das ist eine ehemalige Zündholzfabrik«, sagt Stonestreet,
    nachdem er sie begrüßt und in eine hohe Fabriketage mit
    Galeriegeschoß geführt hat. Dunkelglänzende Hartholzdielen,
    dahinter eine Glasfront zu einem Balkon, der sich über die
    ganze Längsseite zieht. Kerzenschein. »Wir suchen etwas anderes.« Er trägt ein elegantes schwarzes Hemd mit flatternden Manschetten. Die häusliche Version dieses Neu-aber—schlafzerknautscht-Looks, vermutet sie. »Ist nicht Tribeca.«
    Nein, ist es nicht, denkt sie, weder quadrat-noch kubikme—
    termäßig.
    »Hub ist draußen auf dem Balkon. Gerade gekommen. Was
    zu trinken?«
    »Hub?«
    »Er war kürzlich in Houston«, sagt Stonestreet augenzwin—
    kernd.
    »Wenn’s nach denen dort ginge, wohl eher ›Hube‹.« Hube
    Bigend. Der Lombard.
    Cayces Aversion gegen Bigend ist, wie gesagt, persönlicher,
    wenn auch vermittelter Natur, da eine Freundin von ihr in New York etwas mit ihm hatte, irgendwann in der Steinzeit, wie die Kids bis vor kurzem gesagt haben. Margot, die Freundin, die aus Melbourne kommt, bezeichnete ihn immer als »Lombard«, und Cayce dachte zunächst, das bezöge sich irgendwie darauf, daß er Belgier ist. Bis sie dann schließlich auf Nachfragen erfuhr, daß es Margots Kürzel für »Liquiditätsmäßig optimaler Mann, beziehungsmäßig allerdings richtig doof« war. Mit Fortschreiten der Beziehung hatte sich »Lombard« allerdings noch als zu milde erwiesen.
    Stonestreet steht an der Bar, die aus einer Ecke der granitenen Kücheninsel herausskulptiert ist, und reicht Cayce auf ihre Bitte hin ein Glas Mineralwasser mit Eis und einem Spritzer-chen Zitronensaft.
    An der Wand zu ihrer Linken hängt ein Triptychon von einem japanischen Künstler, dessen Namen sie sich nicht merken kann, drei bettlakengroße Sperrholzpaneele, mit Schichten von Logos und großäugigen Mangagirls, im Seidensiebdruckverfah-ren übereinandergelegt. Allerdings wurde jede Farbschicht abgeschliffen, bis sie eine ätherisch-durchscheinende Qualität annahm, und farblos lackiert. Dann wurden neue Schichten darüber gedruckt und wiederum geschliffen und lackiert … Das Ergebnis wirkt in Cayces Augen extrem sanft und tief, fast schon beruhigend, hat aber gleichzeitig etwas Halluzinatori—sches, das unmittelbar unter der Oberfläche lauernde Panik
    suggeriert.
    Sie dreht sich um und sieht durch die Glasfront Bigend
    draußen auf dem Balkon; er steht mit dem Rücken zu ihr, die
    Hände auf dem regennassen Geländer. Er trägt eine Art Regenmantel und etwas, das wie ein Cowboyhut aussieht.
     
    »Wie sie wohl über uns denken werden«, fragt Bigend, »in der Zukunft?« Trotz des raffiniert-veganischen Essens wirkt er wie mit Rindfleischextrakt vollgepumpt: rosige Gesichtsfarbe, leuchtende Augen und glänzendes Fell, soweit sichtbar. Das Tischgespräch war bisher wohltuend harmlos, kein Wort über
    Dorotea oder Blue Ant, und dafür ist Cayce dankbar.
    Helena, Stonestreets Frau, doziert gerade darüber, daß die
    Kosmetikindustrie immer noch Risikomaterialien von Rindern
    verarbeitet, worauf sie kam, nachdem sie über ihre gefüllte
    Aubergine hinweg erklärt hatte, BSE sei nun mal der Preis, den wir dafür zu zahlen hätten, daß Grasfresser zu einer widernatürlichen Form von Kannibalismus gezwungen würden.
    Bigend hat die Angewohnheit, solche Fragen einzustreuen,
    wenn er ein Gesprächsthema leid ist. Krähenfüße, die plötzlich auf die Konversationsautobahn fliegen; man kann ein wildes Ausweichmanöver starten oder einfach mittenrein fahren, in Kauf nehmen, daß einem die Reifen platzen, und hoffen, daß
    man auf den Felgen weiterrumpelt. Er hat immer wieder welche geworfen, schon beim Aperitif, und Cayce vermutet, daß er es deshalb tut, weil er der Boß ist und vielleicht auch, weil er sich wirklich schnell langweilt. Es ist, als ob jemand unablässig durch die Kanäle zappt, genauso gnadenlos.
    »Die werden sich gar keine Gedanken über uns machen«,
    entscheidet sich Cayce fürs Mittenreinfahren. »So wie wir uns keine Gedanken über die Viktorianer machen. Ich meine nicht die Ikonen, sondern die normalen

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