Mut Proben
Knochen, hier der Bruch, spitze, scharfe Kanten – fühlt sich ziemlich zersplittert an. Grosshard lässt sich einen elektrischen Bohrer reichen, perforiert hier und da den Knochen, legt ein Lochblech an, steckt Hilfsdrähte hindurch. Wie Antennen staken sie aus dem Arm.
»Haben Sie schon mal gebohrt?«, fragt Grosshard.
»Zu Hause«, sage ich. »In die Wand. Seltener in Menschen.«
Wortlos reicht er mir den Bohrer. Ich kann es nicht fassen. Das Ding sieht aus wie mein Akku-Schrauber. Neben uns steht die OP -Schwester, die auf einem Wägelchen ein Arsenal an Skalpellen, Zangen und Bohrern verwaltet. Über ihrem Mundschutz starren mich zwei schreckgeweitete Augen an. Ich bringe mich in Position.
Für meine Tochter habe ich vor ein paar Jahren ein Hochbett gebaut. In das Geländer setzte ich damals dicke Kupferrohre ein, die in regelmäßigen Abständen durchbohrt werden mussten. So ähnlich ist es jetzt auch. Ich setze die Spitze des Bohrers vorsichtig an den Knochen, drücke behutsam den Schalter. »Schneller, volle Leistung«, sagt Grosshard. Die Maschine winselt auf höchster Drehzahl, ich gebe Druck für ein paar Sekunden, dann hat der Bohrer die Außenwand durchschlagen, zieht sich butterweich durchs Mark, packt die gegenüberliegende Wand, wieder Druck, ein plötzlicher Ruck – ich bin durch. Zu meiner Beruhigung hält Grosshard den Bohrer ein bisschen mit; zwischen Daumen und Zeigefinger korrigiert er die Richtung und passt auf, dass ich den Knochen nicht zu weit durchstoße. Dahinter, sagt er, verlaufe ein wichtiger Nerv.
Drei- oder viermal schiebe ich das Ding in den Arm, genau weiß ich das nicht, für kalkulatorische Prozesse wie Zählen stellt mein Gehirn keine Leistung mehr bereit. Alle Energie in mir ist abkommandiert zum Bohren. Es ist, als würde ich ein zweites Hochbett bauen, und dieses Mal würde alles auf Anhieb klappen. Ein Hochgefühl, nach dem sich viele Heimwerker sehnen. In jedem Bohrloch messen wir mit einer Art Messschieber die Tiefe. »’ne Achtunddreißiger bitte«, sagt Grosshard dann, oder: »Haben wir noch eine Vierziger?« Die Schwester mit den großen Augen reicht uns Titanschrauben, dreißig Euro das Stück, die sich von gewöhnlichen Holzschrauben aus dem Baumarkt wenig unterscheiden. Das Werkzeug, mit dem ich die Schrauben möglichst gefühlvoll eindrehe, würde in meinem Werkzeugkasten auch nicht weiter auffallen – der Griff wirkt vielleicht ein bisschen altmodisch – scheint aus Holz, mit Mullbinde umwickelt, aber dadurch liegt er schön in der Hand.
Nach getaner Arbeit fläzen wir mit durchgeschwitzter blauer OP -Kluft und Pappbechern voll Cappuccino aus dem Münzautomaten im Aufenthaltsraum wie die Jungs von Emergency Room. Ich überlege, wen ich mit dieser Geschichte beeindrucken möchte. Und ob andere ebenso beeindruckt sein werden wie ich von mir selbst. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass ich fähig wäre, Schrauben in einen Arm zu jagen. Ich Laie.
Mit einem Ruck wende ich mich an Tim Grosshard: »Wie kommen Sie dazu, mir das zu erlauben?«
»Was?«, fragt er.
»Das Bohren … das Schrauben …«
Er zeigt ein souveränes Oberarzt-Lächeln. »Es konnte nichts passieren«, sagt er. »Ich war doch dabei. Es lief besser, als ich dachte.«
Ich gehe in die Kantine, schaue, ob jemand den Arm über der Lehne hängen hat, plaudere noch mit ein paar Ärzten in der Notaufnahme, dann will ich mich verabschieden.
Grosshard schaut überrascht auf. »Ach, Sie gehen schon? Schade, wir machen jetzt einen Oberschenkelhalsbruch.« Er lächelt. »Ich dachte, Sie wollten noch mal …«
Kämpfer und Musiker
Es mag erstaunen, dass Tim Grosshard einen Dilettanten wie mich in der Wunde eines ihm anvertrauten Menschen werkeln ließ. Ärzte, sollte man meinen, sollten sich um die Sicherheit der Patienten sorgen! Aber genau das hat Tim Grosshard getan. Er bildet Assistenzärzte aus; die können patzen, danebenschneiden, Nerven treffen, falsche Löcher bohren; aber irgendwann müssen sie es können. Grosshard muss lernen, zitternde Assistenten zu beaufsichtigen – da ist einer wie ich ein spannender Extremfall. Würde er nicht immer wieder Verantwortung übernehmen, Herausforderungen suchen, das Unerwartete begrüßen – er hätte nicht die Fähigkeiten erlangt, für die er gerühmt wird.
Wer mit einem Trauma ins Krankenhaus eingeliefert wird, sehnt sich in der Regel nach Sicherheit. Die bekommt er, weil Menschen wie Grosshard bereit sind, Risiken einzugehen.
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