Mut Proben
hoch aufragt wie ihr Zeigefinger.
Wenn sie die Pfeiltasten drückt, liest eine synthetische Männerstimme – seltsamerweise mit einem russischen Akzent – leidenschaftslos alles vor, worüber der Cursor hüpft. Ein Übungssatz klingt dann so: »Frau Steinert hat um elf Uhr einen Termin bei runde Klammer auf runde Klammer zu Punkt Punkt Punkt runde Klammer auf der Friseur runde Klammer zu.« Regina Vollbrecht versucht allein aus dem Gehörten zu folgern, in welchem Teil der Lektion sich Frau Mesic befindet und ob sie die richtige Präposition einsetzt. Kompliziert wird es, wenn sie den Cursor versehentlich rückwärts über die Übungssätze jagt. Ohne Atem zu holen, trägt der Russe im Rechner vor: »Punkt Haus dem Tabulator zu Tabulator aus Tabulator neun halb um Tag jeden gehe ich.« Auf Regina Vollbrechts Stirn bildet sich eine Falte.
»Ich brauche das Rennen an der frischen Luft als Ausgleich«, sagt Regina Vollbrecht auf dem Heimweg. Ihr Riesenpudel Cooper zerrt sie zur U-Bahn; er ist ausgebildeter Blindenführer, scheint aber etwas übereifrig. Besser als Sehende könne sie sich gut in die Lernschwierigkeiten von Sehbehinderten einfühlen, aber es sei auch anstrengend, dem endlosen Gebrabbel der Computerstimme zu folgen, immer nett und geduldig zu sein. Ohne ihre körperliche Ausdauer könnte sie sich nicht so gut konzentrieren. Ihre Kraft ermöglicht ihr, auf Graten zu wandeln, die bei den meisten Blinden pures Entsetzen hervorrufen.
Bevor wir uns trafen, fragte ich sie, ob wir zusammen joggen gehen könnten. Und rechnete mit einem »Nein«. Ich wusste, sie hat eine Auswahl von »Guides«, die sie beim Training begleiten, sie um Schlaglöcher und Wurzeln herumlotsen. Sie muss ihnen vertrauen.
»Klar«, sagte sie. »Können wir machen.«
»Äh, aber«, stotterte ich, »ich habe das noch nie gemacht.«
»Das wird schon«, beruhigte sie mich.
»Haben Sie denn keine Angst?«
»Sie werden sicher aufpassen. Sie wollen doch auch nicht, dass ich irgendwo gegenrenne.«
Zuhause haben wir uns umgezogen, sie nimmt ihren Königspudel an die Leine; sein Kopf überragt ihre Hüfte. Ein langer weißer Schnürsenkel, an beiden Enden zu Schlaufen geknüpft, verbindet ihr linkes mit meinem rechten Handgelenk. Wir stehen in ihrem Flur und bilden eine Dreierkette. Regina Vollbrecht öffnet die Tür, Cooper schießt die Treppe herunter, wir stolpern hinterher. Cooper ist dreieinhalb Jahre alt und begleitet sein Frauchen seit einem Jahr. Für einen Blindenhund besitzt er einen bedenklich starken eigenen Willen.
Es regnet. Ich führe sie zum Bordstein an einer ampellosen Kreuzung. Sie beugt sich weit vor, lauscht vier, fünf Sekunden, dann rennen wir los. »Bei Regen muss ich gut aufpassen«, sagt sie. Tröpfeln, das Rauschen von der nahe gelegenen Hauptstraße, Autos, die durch Pfützen fahren – die Geräusche vermischen sich zu einem diffusen Brei. Zur Feierabendzeit laufen wir durch Berlin-Tempelhof. Wenn der Gehweg verstopft sei, sagt sie mir unterwegs, soll ich das Tempo reduzieren. Wenn es um eine Ecke gehe, sie leicht am Handgelenk fassen.
Sie hat sich verwandelt. Wirkte sie im Büro noch etwas ungelenk, trabt sie nun aufrecht und entspannt neben mir. Die Augen sind geschlossen, allerdings nicht, um sich besser zu konzentrieren, sondern damit der Regen nicht hineintropft. Wir schlängeln uns um Passanten herum, ich sage rote Ampeln an, nenne den Namen der Straße, die wir überqueren, versäume aber, Bordsteine anzusagen. Trotzdem stolpert sie nicht, sie hebt die Füße hoch genug. Sie riecht die vertraute Drogerie an der Ecke, denkt aber nicht an das griechische Restaurant.
Dessen Terrasse, begrenzt durch Blumenkübel, besetzt den halben Gehweg. Der Riesenpudel will ausweichen, er drängt sich an Frauchens Beine, doch die schubst ihn energisch zurück und ruft ihn zur Ordnung. Ich erkläre, dass der Hund beinahe an einem griechischen Grenzpfosten hängen geblieben wäre. Sie ist betroffen. »Oh, hier sind wir. Das wusste ich nicht.« Dann sagt sie mit einer Strenge, die ich zum ersten Mal bei ihr höre: »Wenn es so eng wird, müssen Sie mich am Handgelenk vorbeiführen.« Jetzt bin ich betroffen.
Einmal ist sie bei einem Waldlauf mit der Stirn gegen einen Ast gedonnert. Sie hat sich wieder aufgerappelt, mit dem Guide geschimpft, er müsse besser achtgeben, und den Lauf fortgesetzt. So ist nicht leicht zu erschüttern. Sie hat ein paar Ziele.
»Zu Hause sitzen, kochen, Hörbücher hören«, wie es so viele
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