Mut Proben
einstürzen kann. Keiner kennt den Plan des anderen, und doch müssen alle einander bedingungslos vertrauen.
In einem Büchlein hat Gulda notiert: »Jazz: Wo das Leben noch Lust, Leid und Risiko ist und nicht vom Staat geschützte Gleichförmigkeit und Langeweile. Improvisation gleich Freiheit, Risiko, Wagnis.«
Bei dem Kanadier Paul Bley streitet manchmal die rechte mit der linken Hand, wenn er am Klavier sitzt. Aus dieser Spannung, sagt er, entwickle sich Musik. Ob die gefällt, zeigt sich auf der Bühne. »Man spürt, wenn das Publikum ungeduldig wird. Als Improvisator muss man versuchen, solche Momente um einige Sekunden zu antizipieren, um den Lauf der Musik noch rechtzeitig zu ändern und ein Stück aus dem drohenden Desaster in den Erfolg zu führen. Ich mag gerade diese Gefahr – es ist ein bisschen wie beim Stierkampf, wo man alles riskiert. Wenn man das allerdings wie ich schon seit fünfzig Jahren tut, lernt man, mit der Situation umzugehen.« 40
Das ist der Punkt. Der Chirurg, die Elitekämpferin oder der Musiker wagen, an ihre Grenzen zu gehen. Darum wissen sie, was sie können. Und können es sich leisten, mit der Gefahr zu spielen, etwas nicht zu können.
Blind ins Ungewisse
Wenn Regina Vollbrecht sich vornimmt, eine neue Weltbestzeit zu laufen, ist sie die meiste Zeit optimistisch und denkt: Es klappt. Doch eine ängstliche Stimme unkt: Regina, es könnte auch schiefgehen! Sie hat gelernt, im Training nicht nur ihren Körper zu quälen, sondern zugleich ihre widerstreitenden Gefühle zu pflegen. Die Mischung aus Freude und Angst ist hochexplosiv. Sie sorgt für die nötige Menge Adrenalin, kann aber auch die Lust zu laufen vergiften. Regina Vollbrecht weiß, sie darf die Angst nicht verdrängen, also horcht sie in sich hinein. Sie kann das vielleicht ein bisschen besser als andere, weil sie blind ist.
Wenn sie etwas wagt, spielt sie mit der Gefahr zu versagen. »Das gehört dazu«, sagt sie. »Das ist das Risiko.« Aber wenn sie etwas wirklich will, dann übt sie. »Je mehr ich übe, desto sicherer gehe ich in eine Sache hinein. Ich glaube dann, Berge versetzen zu können.«
Regina Vollbrecht kam als Frühchen im siebten Monat zur Welt und wurde im Brutkasten mit Sauerstoff überversorgt. Das schädigte ihre Netzhaut. Sie kann hell und dunkel unterscheiden, sieht, wenn im Zimmer das Licht angeht und wenn es wieder erlischt. Aber keine Konturen, keine Farben. Dass sie anders ist, sagt sie, wurde ihr erst mit vier Jahren bewusst. Als die anderen Kinder ihr beim Versteckspiel mehr Zeit einräumten, »weil du doch blind bist«. Sie lebte in einem Dorf bei Rostock, ihre Eltern hatten ein paar Tiere. Regina mistete den Kaninchenstall aus, keimte Kartoffeln ab, mit den Geschwistern zimmerte sie Bretterbuden.
Mit vier Jahren wurde sie auf ein Internat für Sehgeschädigte nahe Berlin geschickt. Sie begann, Sport zu treiben: Turnen, Schwimmen, Leichtathletik. Doch erst als sie vor zehn Jahren auf einer Tandem-Reise ihren künftigen Mann, einen Ausdauersportler, kennenlernte, entdeckte sie, was in ihr steckt. Heute spielt sie in der Damen-Nationalmannschaft Goalball – dabei werfen die Spieler einen bimmelnden Ball aufs gegnerische Tor. Sie hält den deutschen Rekord unter den blinden Frauen über dreitausend und fünftausend Meter, den Weltrekord im Marathon und hat mehrfach gemeinsam mit Sehenden den »Ironman« absolviert. Der heißt so, weil ihn nur »Eiserne« durchstehen: Sie schwimmen vier Kilometer, schwingen sich dann für hundertachtzig Kilometer aufs Rad, und weil sie dabei so schön in Schwung kommen, legen sie anschließend noch zweiundvierzig Kilometer zu Fuß zurück. So schnell wie möglich natürlich.
Regina Vollbrecht sieht nicht unbedingt so aus, als würde sie sich dieser härtesten aller sportlichen Prüfungen unterziehen. Sie hat sanfte Züge, nicht das ausgemergelte Gesicht einer Marathonläuferin, auch nicht deren lange Beine. Sie misst einen Meter sechzig. Durch die Gänge eines Büros in Berlin-Lichtenberg geht sie leicht vorgebeugt, der Körper wirkt angespannt, die zierlichen Hände sind zu Fäusten geballt. Ihre Augen liegen in tiefen Höhlen. Sie lächelt oft.
Sie bringt sehbehinderten Ausländern Deutsch bei. Da im Computer-Zeitalter kaum noch jemand die gepunktete Brailleschrift lernen will, findet der Unterricht an einem sprechenden PC statt. Frau Mesic, eine serbische Schülerin, kann noch ein bisschen sehen. Sie sitzt dicht vor dem Monitor, auf dem ein »I« so
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