Mut Proben
gefragt. »Mein eigenes schon«, erwiderte ich und dachte an die Platzwunde am Kopf, die vor vielen Jahren einmal meinen Anorak eingefärbt hatte. Aber ob ich verkraften würde zuzusehen, wie ein fremder Mensch fachgerecht aufgeschnippelt wird, wusste ich nicht. Grosshard winkt mich zu sich heran. »Halten Sie mal«, sagt er und drückt mir ein durchsichtiges Röhrchen in die Hand, das an einen Schlauch angeschlossen ist. Es erinnert an einen dieser sprotzenden Speichelsauger beim Zahnarzt. Und so etwas Ähnliches ist es auch. Grosshard zieht mit Klammern die Wunde auseinander, ich schaue in eine tiefe rote Kluft. »Saugen!«, sagt er. Ich atme tief durch. Mir entgleitet die Situation.
Ich bin als Beobachter gekommen. Es war nicht vorgesehen, dass ich Täter werde. Als Journalist bin ich gewohnt, Distanz zu wahren, sonst verliere ich den Überblick – verliere die Kontrolle, verliere mich im Geschehen. Genau das passiert jetzt. Blut läuft über meine Hände. Ich könnte »Stopp« sagen, »nichts für ungut, vielleicht ein anderes Mal, heute passt nicht so gut«. Jeder in diesem gekachelten Saal – der Anästhesist, die beiden OP -Schwestern, Grosshard – hätte dafür Verständnis. Was ist, wenn ich mich ungeschickt anstelle? Wenn ich ausrutsche, Grosshard anrempele, der im Fallen einen wichtigen Nerv oder eine Arterie durchtrennt oder beides, und der Mann unter dem grünen Tuch, falls er je wieder aufwachen sollte, läuft für den Rest seines Lebens mit einem willenlos herumschlackernden Arm herum?
Aber ich will gar nicht weg. So wie der Apparat in meiner Hand Blut saugt, so saugt die Wunde mich an. Mit der Kraft eines Strudels. Damit habe ich nicht gerechnet. Unbewusst verhalte ich mich so, wie es Rettungsschwimmer empfehlen: Kämpfe nicht gegen den Wirbel, sondern lass dich ins Zentrum ziehen; wenn du abtauchst, bleibe ruhig und warte auf den Moment, da der Trichter dich unten freigibt.
Später wird mir klar, was mich so fasziniert: Zum vielleicht einzigen Mal in meinem Leben darf ich in die Tiefe eines lebenden Körpers starren. Außerdem staune ich über mich selbst: dass ich nicht aus meinen blauen sterilen Gummilatschen kippe.
Die Geschichte »Abenteuer im OP -Saal« hat sich zugespitzt. Ein neuer Risikofaktor ist hinzugekommen: ich. Grosshard zupft mit einer Pinzette den Weg frei zum Knochen durch Unterhaut und winzige Fetteinlagerungen in Farbe und Größe von Senfkörnern. Manchmal verletzt er ein kleineres Blutgefäß; dann lege ich dem bewusstlosen Mann meinen Sauger in den Schoß, berühre mit einem anderen Instrument, das an einen Lötkolben erinnert, Grosshards Pinzette und versetze ihr per Knopfdruck einen Stromstoß. Es funkt und zischt, aus der Wunde steigt eine schwarze Rauchsäule auf.
Grosshard hat sich bis zum Oberarmkopf vorgearbeitet, da schießt ein roter Strahl aus der Schulter gut dreißig Zentimeter weit in den Raum, in rhythmischen Abständen. Auweia, denke ich, jetzt hat er ein Problem. Doch anscheinend ist es keine Arterie, bloß eine Vene. Zwei, drei Stromstöße später verschmurgelt auch diese Quelle. Als Grosshard mit einem schraubenschlüsselähnlichen, gewaltigen Metallstab den Bizeps um den Knochen hebeln will, entgleitet ihm das Ding und fällt auf die Fliesen. Es klingt wie in einer Autowerkstatt.
Dann liegt der Knochen frei, und ich halte den Hebel. Grosshard packt mit beiden Händen den tätowierten Arm, zerrt an ihm, schüttelt, schiebt, drückt, ruft immer wieder »Klick« – dann löst jemand den Röntgenapparat aus und die bildgewordenen Bemühungen des Chirurgen erscheinen auf einem Monitor. Grosshard ist zufrieden, grinst. »Reines Handwerk«, sagt er. »Nichts Akademisches.« Und dann: »Fühlen Sie mal.« Ich zögere. Er nimmt meinen Finger und stopft ihn gut vier Zentimeter weit in den Arm.
Vielleicht haben Sie einmal Gelegenheit, die Gemäldegalerie in Berlin zu besuchen. Dann schauen Sie sich doch Der ungläubige Thomas von Caravaggio an. Ein großartiges Bild: Der auferstandene Jesus besucht seine Jünger. Thomas bezweifelt, dass vor ihm der gekreuzigte Heiland steht. Zum Beweis enthüllt Jesus die speerspitzengroße Wunde in seiner Flanke, packt Thomas’ Hand und schiebt den Zeigefinger hinein. Entsetzt und fasziniert zugleich starrt Thomas seinem halb verschwundenen Finger hinterher. So geht es mir jetzt. Bloß, dass mein Finger nicht so schmutzig ist wie seiner und unter einer doppelten Lage Latexhandschuhe steckt.
Ich atme tief durch. Da ist der
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