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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole von Beust
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China in drei Monaten. Die Philosophie dieser Zeit war es, die Industrie in die Billiglohnländer abzuschieben und die starken Länder auf Dienstleistung und Finanzwesen zu spezialisieren. Folglich wurde Deutschland für seine relativ hohe Industrialisierungsquote verspottet.
    Heute sieht es anders aus: Deutschland ist stark wie nie. In Zeiten der Krise war es unsere große Stärke, dass hierzulande eine gewerbliche Grundlage von 15 bis 25 Prozent besteht. Während die anderen, England etwa oder die USA, mit ihren Finanzblasen gescheitert sind, steht zumindest Mittel- und
Nordeuropa ökonomisch heute vergleichsweise solide da. Unter dem Strich war dies das erfolgreichere Modell.
    Europa ist aber nicht nur ein ökonomisches Projekt, sondern muss auch kulturell begriffen werden. In diesem Punkt habe ich in den vergangenen zehn Jahren dazugelernt, dass Kultur im Kernbestand eine Aufgabe der Gemeinschaft ist und einer europäischen Tradition folgen muss. Sie kann und soll nicht rein auf Kommerzialisierung ausgerichtet sein. Kunst, Theater, Film – Kultur muss provokant sein dürfen und unabhängig vom Markt bestehen. Dazu braucht es eine Kulturpolitik, die solchen Freiraum schafft, auch wenn die Produkte, die sich dadurch ergeben, nicht immer schmeicheln. Ich selbst habe mich in meiner Amtszeit schon über Theaterstücke geärgert, weil sie mir nicht gefielen. Manchmal dachte ich dann: »Und dafür werden also Steuergelder verpulvert?« Aber gerade davon lebt Kultur: dass sie in ihrer Verwirklichung weder dem Geschmack der Massen noch dem der Mächtigen unterworfen ist. Auch das, was man persönlich für das Letzte hält, ist Teil der Entwicklung. Die Vielfalt an Museen und kleinen Theatern, die sich nur durch eine Unabhängigkeit der Kunst ergeben kann, macht jene Identität Europas aus, um die zu kämpfen sich lohnt.
    Wenn man mich fragt, ob ich heute europäischer bin als noch vor zehn Jahren, antworte ich mit einem klaren Ja. Vermutlich war ich auch vor fünf Jahren noch nicht so überzeugt von Europa, wie ich es heute bin. Europa ist für mich eine Idee, eine Vision, eine Werteheimat. Wenn ich in Europa lande, dann schreie ich nicht gleich: »Hurra, jetzt bin ich
in Europa.« Das Emotionale ist stärker auf die unmittelbare Heimat begrenzt. In Hamburg habe ich meine Wurzeln, und mit Norddeutschland fühle ich mich verbundener als mit Oberbayern. So wie sich umgekehrt der Oberbayer in Oberbayern wohler fühlt als in Hamburg oder sich ein Deutscher in seinem Land stärker zu Hause fühlt als in Frankreich oder ein Grieche mehr Emotionen für Griechenland übrig hat als wahrscheinlich für Belgien.
    Doch trotz aller Unterschiede: Wir sind alle Europäer. Mit typischen, rein europäischen Wertevorstellungen. Ich denke dabei zum Beispiel an die Bejahung einer eigenen Rolle des Staates über Grundelemente hinaus, an eine öffentliche Kulturpolitik, an den Grundsatz der Langfristigkeit vor Kurzfristigkeit, an einen starken Individualschutz vor Ansprüchen der Öffentlichkeit, auch an einen Städtebau, der die Stadt als Polis und nicht als Markt versteht, an ein Gewaltmonopol des Staates. Hinsichtlich dieser Wertvorstellungen sollten wir selbstbewusster sein. Denn nur ein selbstbewusstes Europa, das weiß, wofür es steht, kann langfristig auch ein starker Partner etwa der Vereinigten Staaten sein bei der Durchsetzung generell westlicher Werte wie die Grundrechte der Menschen, Respekt und Toleranz sowie Offenheit für gesellschaftliche Entwicklung. Diese Werte verbinden uns Europäer zutiefst mit den USA. Sie sind international nicht überall anerkannt oder aber bisweilen gefährdet, wo sie bereits anerkannt sind. Ein starkes Europa mit darüber hinaus gehenden definierten eigenen Wertvorstellungen kann und muss in Partnerschaft mit den USA weltweit für diese gemeinsamen Werte eintreten.

    Europas Krisen
    Wir sprechen heute vor allem von einer großen Krise. Es ist die ökonomische Krise, das Ausmaß der Staatsverschuldung der Länder, die Europa derzeit in besonderem Maße erfasst hat. Doch dies ist viel mehr ein generelles Problem als eine spezifisch europäische Krise. Die Menschen in den Industrie- und Schwellenländern leben heute weit über ihre Verhältnisse. Die USA etwa haben Schulden in Höhe von 15 Billionen Dollar angehäuft. Das Land droht unter seinem gewaltigen Schuldenberg zu ersticken. Blickt man nach Japan, so stellt man fest, dass dort im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt erheblich mehr Schulden

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