Mutproben
angehäuft wurden als etwa in Griechenland. Wir sprechen also nicht von einer europäischen Krise, sondern es handelt sich hierbei um ein globales Phänomen. In Europa tritt lediglich die etwas schwerfällige Meinungsfindung zutage; wir scheinen am schlechtesten von allen auf die Krise vorbereitet zu sein bzw. zu reagieren. Aber wir sollten die Kirche im Dorf lassen und Belehrungen gerade aus den USA nicht allzu ernst nehmen. Europa sitzt im Vergleich zu den anderen Ländern relativ fest im Sattel.
Das Problem Europas ist weniger die Krise selbst als viel mehr der Reflex darauf: die Ablehnung seiner selbst. Vermehrt gebrauchte nationale Argumentationsschemata sind verhängnisvoll. Anstatt in der Krise zusammenzurücken und patriotisch als Europäer zusammenzuhalten, schieben wir uns gegenseitig den schwarzen Peter zu und nehmen Abstand
voneinander. Dabei hat Europa gegenüber der Konkurrenz aus Amerika und Asien nur eine Chance, wenn wir langfristig ein europäisches Stärkebewusstsein demonstrieren und nicht unsere Stärke, die Gemeinsamkeit heißt, leichtfertig und für kurzfristige nationale Ziele aufs Spiel setzen. Auch bei uns mahnen führende Politiker permanent, dass mehr Europa weniger Deutschland sei. Das mag sich wohlfeil anhören und vielleicht sogar Befindlichkeiten vieler Leute widerspiegeln. Trotzdem ist es falsch! Die Politik hat die verantwortungsvolle Aufgabe, die europäische Idee weiter zu tragen und nicht kurzfristig populistische Bedenken ins Volk zu streuen. Hier sind wir wieder an dem Punkt, wo manche Politiker leider den Wählern nach dem Mund reden, obwohl sie es eigentlich doch besser wissen.
Hier tritt auch ein publizistisches Problem auf. Vor kurzem sprach ich am Rand einer Veranstaltung mit dem ehemaligen Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, darüber. Er hatte gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel Europa und wunderte sich nun, dass keiner bereit sei, das Buch positiv zu besprechen. Ihm ging es nicht darum, dass er selbst sein Buch so herausragend fand und sich nun in seiner Eitelkeit gekränkt sah. Er stellte lediglich fest, dass heute kaum noch einer den pro-europäischen Gedanken unterstützt, den er in seinem Buch geäußert hatte – ein Gedanke, der zur Zeit schlichtweg nicht populär zu sein scheint. Populär hingegen ist es, sich europakritisch darzustellen. Nach dem Motto: Wir Deutschen sind nicht die Zahlmeister Europas, Eurobonds
sind indiskutabel, wir zahlen ohnehin schon am meisten, und die Griechen müssen wir deshalb kräftig an die Kandare nehmen. Verantwortungsvoll wäre jedoch, genau das Gegenteil zu tun.
Eine Generation, die Europa noch aus tiefer Überzeugung emotional begriffen hat, ist die Generation von Helmut Kohl. Mit ziemlichem Unbehagen stelle ich fest, dass es heute einen starken publizistischen Zeitgeist gibt, angeheizt von seriösen und konservativen Blättern, die diese Generation und ihre Ängste nicht mehr ernst nehmen und sich über sie lustig machen. Europa als Friedenssicherung, das sei doch längst nicht mehr aktuell. Und ich sehe mit Sorge, wie in denselben Blättern derzeit ein beinahe verträumt-nationalistischer Ton angestimmt wird. Wie etwa im Wirtschaftsteil der FAZ immer wieder die Frage aufgeworfen wird, wie lange das noch so weiter gehen solle mit Europa, und ob wir uns nicht doch lieber wieder auf nationale Dinge besinnen sollten. Wer so unterschiedlicher Auffassungen sei wie die einzelnen Mitgliedsstaaten in Europa, der könne auf Dauer nicht wirklich gut zusammenarbeiten und zusammenleben.
Natürlich ist Europa in sich sehr unterschiedlich, Italien ist anders als Nordschlesien, Kärnten anders als Mallorca. Jetzt aber die Flinte ins Korn zu werfen, das empfinde ich als gesichtslos. Und an einer solchen Stimmung tragen die Medien Mitverantwortung.
Ebenso trifft diese Kritik auf die Intellektuellen des Landes zu. Ein paar wenige versuchen, ihre Stimme pro Europa zu
erheben, Jürgen Habermas und zwei, drei andere. Das ist sehr ehrenvoll. Doch diese wenigen Stimmen gehen leider unter. Denn im Moment herrscht, gerade unter den deutschen Intellektuellen, ein Europa-Skeptizismus, der mich an das Hinterherrennen der Intellektuellen hinter mancher deutschtümelnder Idee in den Dreißigerjahren erinnert.
Fehlende Köpfe
Europa eint vor allem die christliche Tradition. Die gemeinsame Kultur. Europa schafft durchaus eine Identität, die vom Atlantik bis nach Russland reicht. Das politische Bewusstsein mag in Russland ein
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