Mutproben
wir unseren Horizont über das rein Ökonomische hinaus ausbilden und uns wieder auf das besinnen, was wir uns in Europa über viele Jahrhunderte erarbeitet und erkämpft haben. Nur wenn wir diese Werte wieder vermitteln, bilden wir Menschen aus, die den Arbeitsmarkt, unsere Kultur und unsere Gesellschaft positiv formen können.
Mut und Proben III – Oder warum Europa unsere einzige Chance ist
Durch meine Familie erfuhr ich sehr früh, was Krieg bedeutet. Meine Großmutter mütterlicherseits lebte damals in Hamm, einem kleinbürgerlichen bis bürgerlichen Viertel nahe dem Zentrum. Hamm war einer jener Stadtteile, die fast vollständig ausgebombt wurden. Bis zuletzt konnte meine Mutter die Bilder der Bombenangriffe auf Hamburg nicht vergessen – als Menschen wie lebende Fackeln aus Phosphor im Hammer Park in den Teich sprangen, um zu überleben. Meine Mutter erzählte mir viele solcher Geschichten, etwa wie mein Vater in Lübeck bei seinen Eltern zu Besuch war, als die Engländer ihre Angriffe flogen. Von dort aus konnte er den Feuerschein über Hamburg sehen, voller Sorge, dass seiner Frau etwas passiert sein könnte. Als mein Vater zurückkehrte, war Hamm nur noch ein Gerippe aus rauchenden Häuserresten und Schutt und Leichen, und verzweifelt machte er sich auf die Suche nach meiner Mutter. Er fand sie schließlich bei Bekannten – das Haus der Großmutter und das gesamte Stadtviertel waren zerstört. Für meine Eltern waren die Schrecken des Krieges letztlich glimpflich ausgegangen. Für andere weniger. Viele Bekannte und Nachbarn jener Jahre verloren nicht nur ihr gesamtes Hab und Gut, sondern auch ihre Ehemänner oder -frauen, ihre Kinder, ihre Eltern.
Meine Mutter ist bis zum Ende ihres Lebens zusammengezuckt, wenn irgendwo Feueralarm ertönte. Ich habe die Angst meiner Eltern beinahe körperlich mitfühlen können, wenn
sie Jahrzehnte später noch immer erstarrten und ihnen die Angst durch Mark und Bein fuhr. Diese Erlebnisse, gepaart mit der historischen Erkenntnis, dass die Länder Europas sich über Jahrhunderte bekriegten, mit vielen Opfern und Nachwirkungen noch über Generationen hinweg, haben mich sehr geprägt und in mir ein starkes Gefühl der Dankbarkeit erzeugt, selbst in Frieden leben zu können.
Ich bin ein Kind der Sechzigerjahre und mit dem Vietnam-Krieg, mit der täglichen Berichterstattung und den Demonstrationen dagegen, groß geworden. Ich gehöre zu jener Generation, deren Eltern die Nazizeit erlebt haben und die selbst mit der ständigen Bedrohung des Kalten Krieges und der Nachrüstung in den Achtzigern aufgewachsen ist. Dennoch blieb für mich die Angst eines ernsthaften Krieges immer abstrakt. Ich war der Überzeugung, das Gleichgewicht des Schreckens halte alle Seiten von einem Angriff ab. Hitler war in seinem Ausmaße überhaupt erst möglich geworden, weil ihn die anderen gelassen hatten. Er hat sich Stück um Stück ausprobiert, zunächst im Rheinland, dann im Sudetenland, später durch die Annexion Österreichs. Für mich war das Gleichgewicht des Schreckens immer logischer, als eine abwartende Besänftigungspolitik zu verfolgen gegen jemanden, der eine solche Aggressivität an den Tag legt. Im Falle des Kalten Krieges war dies gut zu beobachten.
Meine Hauptverbindung zu Europa ist der Frieden. Und Europa ist für mich weit mehr als eine ökonomische Angelegenheit. Europa verkörpert für mich Werte wie Geborgenheit
und Kultur, Langfristigkeit und handwerkliche Zuverlässigkeit. Das Handwerk mit all seiner Solidität etwa, seiner Zuverlässigkeit, mit Zertifizierung, mit Menschen, die qualifiziert sind, mit einem Anspruch an Bildung, der über das Berufliche hinausgeht – all dies sind gute Beispiele für europäische Traditionen im besten Sinn. Europa ist ein Kontrapunkt zum Wildwuchs, wie er teilweise in Asien zu beobachten ist oder wie es das Denken in Vierteljahresbilanzen aus den USA vorgibt. Worüber man sich im Grunde vor fünf Jahren, noch vor der Finanzkrise, lustig machte als das »alte Europa«, das ist für mich genau jenes Europa, das ich mag, das mir ein Gefühl des Schutzes gibt und Heimatgefühl vermittelt.
Vor einigen Jahren dachte ich noch anders. Ich war der Meinung, dass Asien und vor allem die USA gute Vorbilder seien für uns Europäer. Ich war überzeugt von den Argumenten aus Übersee, schlichtweg deshalb schon, weil diese Staaten mit ihrem Modell so lange erfolgreich waren. Da hieß es immer: Was in Deutschland zwanzig Jahre dauert, gelingt in
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