Die Tiefe einer Seele
Prolog
»Kein Sonnenstrahl geht verloren. Aber das Grün, das er weckt, braucht Zeit zum Sprießen.«
(Albert Schweitzer)
Seine Füße waren schwer wie Blei, und seine Atmung erinnerte an die eines Herz-Lungenkranken, der dringend eine Organtransplantation benötigte, als er diesen Weg ging. Jenen, den er nicht nochmal beschreiten hatte wollen. Das hatte er sich geschworen. Damals! Er hatte gedacht, es wäre besser, einen Punkt zu machen. Das alles hinter sich zu lassen. Neu zu beginnen. Weil es doch nichts brachte, immer in diesen alten Geschichten rumzuwühlen. Das Gebet fiel ihm ein, das seine Mutter ihm als Kind beigebracht hatte: »Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Er selbst war im Gegensatz zu seiner Mutter nicht besonders gläubig, aber diese Zeilen, die hatten etwas. Und so hatte er in jenen Tagen hingenommen, was er hatte nicht ändern können, und war losgezogen, um sich ein anderes Leben aufzubauen.
Dieser Weg war der Richtige für ihn gewesen über all die Jahre, bis hin zu dem Moment, wo dieses Mädchen ihm begegnet war. Da war es dann schon bald vorbei gewesen mit der Gelassenheit. Knallhart hatte sie ihm vor Augen geführt, was er nicht sehen wollte, und was doch so offensichtlich war. Hatte ihn begreifen lassen, was wirklich mit ihm los war, ihn zurückgeführt in sein ursprüngliches Leben und war auch nicht davor zurückgeschreckt, das hier von ihm zu verlangen. Mit Händen und Füßen, mit Leib und Seele hatte er sich dagegen gewehrt. Hatte, seiner Meinung nach, die allerbesten, durch und durch logischen Argumente eingebracht, warum es keinen Sinn machte. Nichts davon hatte dieses störrische Weib gelten lassen. Sie hatte ihn in die Mangel genommen, wie es ein Therapeut nicht besser hinbekommen hätte, kein Wunder, in diesen Dingen kannte sie sich schließlich bestens aus. Es war ihm nichts anderes übriggeblieben, er musste nachgeben, und das tat er auch, wenn auch widerwillig. Sonst hätte sie ihn wohlmöglich bis in alle Ewigkeiten bedrängt, dieses verrückte Mädchen. Sein verrücktes Mädchen. Verstohlen sah er zur Seite und sah verblüfft, wie entschlossen ihr Blick war. Und das zauberte ihm für einen kurzen Moment ein Lächeln auf das Gesicht, viel zu lange hatte er diese Entschlossenheit in ihren Augen schließlich herbeigesehnt.
Es war kühl geworden in Washington. Der Oktober war gegangen, und er hatte die letzten Sonnenstrahlen mit sich genommen. Was zur Folge hatte, dass das Laub an und unter den Bäumen nicht mehr in den buntesten Farben schillerte, sondern kraftlos wirkte. Ein bisschen so, wie er sich im Moment fühlte. Kraftlos und voller Angst vor dem, was vor ihm lag. Er mochte den November nicht besonders. Das war schon immer so gewesen, nicht erst seit damals. Und er war sich durchaus bewusst, dass seine Abneigung gegen diese trübe Jahreszeit nichts Ungewöhnliches war, nein, sie verband ihn wahrscheinlich mit dem überwiegenden Rest der Menschheit. So auch mit dieser Frau, deren Hand er hielt, und die an seiner Seite über die menschenverlassenen Wege schritt. Unter ihren Füßen knirschte der Kies, und irgendwie hatte das Ganze hier etwas Gruseliges. Es war spät, die Dämmerung war schon angebrochen, und dies war eigentlich kein Ort, den man gerne in der Dunkelheit aufsuchte.
Nein, er mochte den November so gar nicht. Ganz einfach aus dem Grunde, weil er das Leben liebte und alles, ja alles an diesem trübsinnigen Monat tot war. Tot wie dieser Ort hier und tot wie alle, die hier ihren letzten Platz auf Erden gefunden hatten. Sein Unbehagen wuchs, was seine Begleiterin sofort bemerkte. Sachte verstärkte sie den Druck ihrer Hand, ließ nicht zu, dass er langsamer wurde, schon gar nicht, dass er anhielt. Zog ihn weiter, bis hin zu dem Ort, an dem er seit damals nicht mehr gewesen war. Und dann waren sie da. Sie wollte sich von ihm lösen, ein wenig zurücktreten, ihm die Zeit und den Raum geben, den er in diesem Moment benötigte. Aber er hielt sie fest an der Hand. Ohne sie wäre er niemals hierher zurückgekommen, ohne sie hätte er nicht mal gewusst, dass er das schlicht und einfach tun musste. Denn das wurde ihm in diesem Augenblick zur bitteren Gewissheit. Er musste hierherkommen, um endlich wieder frei zu sein. Bleich und stumm starrte er auf den edlen Marmorstein. Auf die Worte, die darauf verewigt
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