Mutterliebst (German Edition)
Ende des Gangs zu. Er ist schwach erleuchtet von zwei Nachtlichtern. Zumindest ist hier der Gestank weniger schlimm. Das muss Jonas’ Zimmer sein, auch wenn nichts darauf hindeutet, dass es sich um das Zimmer eines Teenagers handelt. Das Bett ist sorgfältig gemacht. Eine leuchtend rotblaue Tagesdecke liegt darauf. An der Wand hängt das Stickbild eines kleinen Jungen, der zu den Füßen seiner Mutter hockt, während sie auf einem Stuhl sitzt und eine Hand auf seinen Kopf gelegt hat. Darunter befinden sich in akkuratem Kreuzstich die irgendwie unheilvollen Worte: Jedem braven Jungen geht es gut. Das Zimmer hat kein Fenster. Auf der Kommode steht ein Foto – Marianne, die Jonas als Baby in den Armen hält. Er ist fest in eine blaue Decke gewickelt. Sie presst ihn an ihre Brust und schaut direkt in die Kamera. Ihr Lächeln drückt wahnsinnigen Stolz aus.
Ansonsten gibt es nur noch ein weiteres Möbelstück, einen kleinen Holzschreibtisch, der so aussieht, als wäre er vor langer Zeit in einer Grundschule benutzt worden. Er ist mit Bleistiftstrichen übersät. Die Ecken sind abgewetzt. Danielle öffnet die Tür des Wandschranks und enthüllt eine ordentliche Reihe Hemden und Hosen. In Plastikkisten auf den Regalböden befinden sich Unterwäsche, Socken und Shorts – genauso akkurat gefaltet wie in einem Armeespind.
Danielle schlägt die Bettdecke zurück. Ein dicker Metallring fällt ihr ins Auge. Ledergurte befinden sich an beiden Seiten. Danielle spürt, wie sich ihr Puls beschleunigt. Sie nimmt einen Gurt in die Hand. Die Schnallen sind aus Gussmetall gefertigt und wirken schwer und bedrohlich. Das Leder ist leichter und an dem Übergang von der Manschette zu den Riemen, mit denen sie am Bett befestigt sind, ein wenig gebrochen. Sie sehen alt und abgenutzt aus – mehr als abgenutzt, um ehrlich zu sein.
Mittlerweile schwitzt Danielle. Sie geht auf die Knie und leuchtet mit der Taschenlampe unters Bett. Als sie einen Tennisschuh aus dem Weg schiebt, stößt sie gegen etwas. Sie streckt den Arm weit aus und zieht ein Objekt hervor, das ganz verstaubt ist. Danielle steht auf und betastet die kleine schwarze Box, die an einem roten Nylongurt hängt. Ein Stromhalsband für Hunde.
Ganz schnell inspiziert sie die Küche. Kein Hundenapf auf dem Boden, kein Hundefutter in der Vorratskammer. Sie denkt an die groben Löcher, die in das Halsband gebohrt worden sind, um es enger zu machen – eng genug, damit es um den Hals eines Jungen passt. Danielle wird übel. Sie legt das Halsband unter das Bett zurück. Das leuchtende Zifferblatt ihrer Uhr zeigt ihr, dass sie bereits seit fast einer Stunde in der Wohnung ist. Von draußen erklingt kein Krach mehr. Sie verlässt den Raum und steht wieder im Wohnzimmer. Stille. Die Jungs müssen verschwunden sein. Eine kurze Durchsuchung des Badezimmers ergibt nichts außer einem Medikamentenschrank und den alltäglichen Toilettenartikeln.
Sie kehrt in das Gästezimmer zurück und öffnet den Wandschrank. Ihr schlägt ein derartiger Gestank entgegen, dass sie gegen den überwältigenden Drang, sich zu übergeben, ankämpfen muss. Hier ist der Ursprung dieses verfaulten, erdrückenden Geruchs, der das ganze Haus erfüllt. Sie presst eine Hand auf den Mund und knipst die Deckenlampe an. In dem Licht schimmert alles seltsam bläulich. Winterkleidung hängt an den Stangen, in Fäulnis gebadet. Ob eine Ratte hinter der Wand verendet ist? Sie will das Licht schon wieder ausschalten, als ihr etwas ins Auge fällt, etwas auf dem Regal in der Ecke. Es scheint eine ganz eigene Lichtquelle zu besitzen. Danielle schiebt die Kleider beiseite, die es verdecken.
In dem surrealen Licht scheint ein Glasbehälter zu schweben, der halb von einem pinkfarbenen Stepptuch bedeckt wird. Sie betrachtet das Tuch genauer. Ein Teewärmer. Sie holt tief Luft und nimmt ihn ab. Nun erkennt sie, dass es sich bei dem Behälter um ein Probenglas aus einem Labor handelt. Der Deckel sitzt schief, so als hätte jemand vergessen, ihn richtig zuzudrehen. Der Gestank nimmt ihr beinahe den Atem. Sie zuckt zurück und lässt die Teehaube auf den Boden fallen.
Es ist der Inhalt des Glases, der sie so verwirrt. Es sieht aus wie eine dunkle Form, die in eine zähe, getönte Flüssigkeit gebannt wurde. Der blaue Schimmer der Deckenlampe verleiht der Form einen seltsamen Schatten. Die Kombination aus Licht und einem sanften Summton weckt den Eindruck, als wäre die Ecke, in der sich das Ganze befindet, nicht von dieser Welt.
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