Mutterliebst (German Edition)
Alles wirkt irgendwie gruselig. Danielle blinzelt. Die Form in dem Glas scheint sich zu bewegen, nur ganz minimal, wie eine Lavalampe, die gerade eingeschaltet wurde und langsam auf die Hitze reagiert, die ihren Inhalt dazu bringt, sich zu drehen und aufzusteigen. Gebannt starrt sie darauf. Irgendein primitiver Teil ihres Gehirns schaltet auf Alarm. Eine irrationale Furcht überwältigt sie, die mit der Überzeugung einhergeht, jede plötzliche Bewegung ihrerseits würde dazu führen, dass die Form aus ihrem Behälter springt und sie angreift.
Vollkommen hypnotisiert rückt sie näher heran. Jeder Zentimeter bringt die Form deutlicher in den Fokus. In dem einen Augenblick ist es noch ein verkrümmter Haufen Schuppen und Pelz – im nächsten nicht mehr als ein glattes, schimmerndes Stück Protoplasma, das irgendwo in der Schwebe hängt. Als Danielle endlich ihr Gesicht auf eine Höhe mit dem Behälter bringt, erspäht sie bauschige Falten in der trüben Brühe. Das Ding scheint in sich verdreht zu sein. Danielle ist beinahe zu verängstigt, um zu atmen. Zitternd richtet sie ihre kleine Taschenlampe auf das Glas. Was sie da anstarrt, lässt sie so heftig zurückzucken, als wäre es ihr aus seinem Behälter an die Gurgel gesprungen.
Es sind die toten, durchscheinenden Augen eines Fötus. Es hängt, bewegungsunfähig und grotesk, in einer dunklen, gerinnenden Flüssigkeit. Sie kämpft gegen die Übelkeit an, die in ihrer Kehle aufsteigt, und zwingt sich, noch einmal hinzuschauen. Seine Augen im Schatten scheinen lebendig zu sein. Sie beschwören sie, flehen sie an.
Um was?
Nach einem endlos langen Moment begreift sie es. Die kleinen Augen flehen um Gnade, Gerechtigkeit, Vergeltung. Doch vor allem anderen schreien sie nach ihrer Mutter.
29. KAPITEL
Danielle sitzt auf dem Barhocker in der Küche, so weit entfernt von dem Gespenst in dem Wandschrank wie möglich. Ihre Gedanken wirbeln kreuz und quer durcheinander, während sie diese bizarren Entdeckungen zu verarbeiten sucht. In ihrer Handtasche kramt sie hastig nach einer Zigarette. Ihre Hände zittern. Ehe sie die Chance hat, den Rauch auszublasen, klingelt ihr Handy. Das Geräusch klingt ohrenbetäubend in der absoluten Stille des Hauses. Erneut fischt sie in ihrer Handtasche herum, erwischt das Telefon und schaut auf das Display. Doaks. Es ist ein Wunder, dass er nicht schon früher angerufen hat. Sie lässt es viermal klingeln, ehe sie beschließt, ranzugehen. „Hallo?“
„Sagen Sie verfickt noch mal nicht einfach so ‚Hallo‘ zu mir!“, faucht er sie an. „Wo in aller Welt sind Sie?“
„In Arizona.“
„Als wenn ich es nicht gewusst hätte. Es ist eine Sache, dass Sie sich vor Sevillas drücken, aber jetzt bescheißen Sie mich. Sind bei Ihnen alle Sicherungen durchgebrannt?“
Sie schweigt.
„Nun?“ Die raue Stimme klingt harsch. „Kommen Sie zurück, oder wollen Sie lieber darauf warten, dass Tony Ihnen das FBI auf den Hals hetzt? Und täuschen Sie sich mal nicht, Mädchen, das wird er nämlich tun, und ich unterstütze ihn dabei.“
Sie inhaliert tief und bläst den blauen Dunst aus. Mit einem Mal überwältigen sie Erschöpfung und abgrundtiefe Angst. „Sind Sie fertig?“
„Fertig? Ich hab noch nicht mal richtig angefangen.“
„Haben Sie es Sevillas gesagt?“
Er schnaubt. „Dass ich dumm genug war, Sie entwischen zu lassen? Ausgeschlossen. Also, raus mit der Sprache – kommen Sie zurück oder nicht?“
„Doaks, Sie können sich nicht vorstellen, was ich hier gefunden habe.“
„Na, klar doch.“ Seine Worte klingen wie Peitschenhiebe. „Den blutigen Kamm? Ein schriftliches Geständnis?“
„Hören Sie auf damit“, versetzt sie knapp. „Ich habe keine Zeit dafür. Es ist beinahe drei Uhr morgens, und ich muss den ersten Flug hier raus erwischen, damit ich rechtzeitig bei der Anhörung bin.“
„Falls Sie nicht planen, den fliegenden Teppich zu nehmen und sich auf einen anderen Planeten abzusetzen“, murmelt er. „Sie haben Glück, dass ich Sie mag, Mädchen, oder Sie wären jetzt tot. Also gut, ich bin dabei. Sagen Sie mir, was Sie haben.“
Danielle holt tief Luft und erzählt ihm von den merkwürdigen wissenschaftlichen Experimenten, der Sammlung von Schimmel und Toxinen, den pharmazeutischen und medizinischen Texten in Mariannes Schlafzimmer. Ehe sie weitersprechen kann, schnaubt er am anderen Ende der Leitung verächtlich. „Na und?“
Sie hört, wie er auf irgendetwas rumkaut, das Nüsse zu enthalten scheint.
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