Mutterliebst (German Edition)
an die Wand geklebt. Das Schriftbild der Liste sieht aus wie das Produkt einer Schreibmaschine aus den fünfziger Jahren, deren Farbband nicht mehr viel hergab. Danielle fährt mit dem Zeigefinger bis zum Buchstaben J hinunter und findet die Apartmentnummer im vierten Stock. Als sie das „Außer Betrieb“Schild am Aufzug sieht, seufzt sie.
Endlich im vierten Stock angekommen, ist sie zwar außer Atem, aber nicht länger nervös. Sie glättet ihr Haar und geht zum Empfang hinüber.
„Guten Tag, Miss Talbert.“ Marcia ist ein junges Ding in den Zwanzigern, deren honigsüße Stimme ganz im Gegensatz zu ihrer kräftigen Statur und dem vernünftigen blauen Kleid steht. Sie erhebt sich und schenkt ihr ein Glas Wasser ein. „Das braucht jeder nach dieser Treppe. Hier, bitte schön.“
Danielle nimmt einen tiefen Schluck. „Vielen Dank.“
„Sie sind sehr pünktlich. Nehmen Sie doch kurz Platz, dann sage ich dem Doktor, dass Sie da sind.“
Der Gang zu den drei leeren Holzstühlen ist kurz. Danielle sitzt kaum, da öffnet sich bereits eine Nebentür und ein älterer Mann in einem weißen Kittel taucht auf. Er trägt eine Brille und wirkt relativ streng. Beeindruckende Tränensäcke hängen unter seinen Augen.
Danielle erhebt sich und streckt eine Hand aus. „Dr. Jojanovich?“
„Ja. Miss Talbert, richtig?“ Seine Stimme ist ein tiefer Bariton. „Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich Ihnen helfen kann, aber kommen Sie doch herein. Bitte keine Anrufe durchstellen, Marcia.“
„Ja, natürlich, Doktor.“
Das Büro, das Danielle betritt, ist erstaunlich groß. Ein staubiger Computer steht auf einem alten Schreibtisch. Ein dickes Kabel windet sich wie eine Nabelschnur um sein unteres Ende. Dr. Jojanovich deutet auf einen durchgesessenen Clubsessel, und nachdem sie darauf Platz genommen hat, setzt er sich auf einen uralten Lederstuhl. Dabei entsteht ein quietschendes Geräusch. Der Blick seiner aufmerksamen braunen Augen richtet sich auf sie. „Nun, Miss Talbert, was kann ich für Sie tun? Marcia sagte, dass Sie mich sofort sprechen müssten.“
Danielle holt tief Luft und schenkt ihm ihr zuversichtlichstes Lächeln. „Wenn ich ehrlich bin, Dr. Jojanovich, so bin ich keine Patientin, sondern Anwältin. Mein Name ist Danielle Parkman.“
Er hebt die Augenbrauen. „Anwältin?“
„Ja“, erwidert sie. „Ich befinde mich in einer ungewöhnlichen Situation, Dr. Jojanovich. Wenn Sie mich vielleicht erklären lassen würden.“
Er legt seine knorrige Hand auf der abgenutzten Tischplatte ab.
„Bitte, tun Sie das. Ich mag Anwälte allerdings nicht besonders.“
Sie lächelt. „So geht es den meisten Leuten. Ich vertrete einen Mandanten, der in Plano, Iowa, in einige Schwierigkeiten geraten ist.“
Er schüttelt den Kopf. „Ich habe nie in Iowa praktiziert, Miss Parkman.“
„Nun“, entgegnet sie, „das Problem besteht aus einem Mordfall, in den leider einer ihrer früheren Patienten verwickelt ist.“
Jojanovichs Augen weiten sich gerade genug, dass etwas Weiß zu sehen ist. „Mord?“
„Möglicherweise auch Selbstmord.“
„Lassen Sie mich sichergehen, dass ich Sie richtig verstanden habe, Miss Parkman“, äußert er langsam. „Sie lassen sich unter falschen Angaben einen Notfalltermin geben, und nun wollen Sie einen Mordfall oder vielleicht auch nur Selbstmord in Iowa diskutieren, wo ich niemals praktiziert habe und, so Gott will, auch niemals praktizieren werde. Als Anwältin müssen Sie wissen, dass ich nicht mit Ihnen über einen meiner Patienten sprechen kann, ohne die ärztliche Schweigepflicht zu brechen.“ Er schüttelt den Kopf und erhebt sich. „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …“
Danielle tritt ihm eilig in den Weg. „Bitte, Doktor. Meinem Mandanten könnte die Todesstrafe für den Mord an Ihrem Patienten drohen. Die Staatsanwaltschaft könnte Erfolg haben, wenn ich nicht die Information bekomme, die ich dringend brauche.“ Sie kehrt zu ihrem Sessel zurück und bemüht sich, ihm nicht zu zeigen, wie viel Angst ihr diese Worte machen. Vielleicht setzt er sich wieder, wenn sie Platz nimmt.
Der Arzt bleibt stehen. „Welcher Patient?“
„Sein Name ist Jonas Morrison.“ In Jojanovichs Augen blitzt keinerlei Erkennen auf. „Er war siebzehn Jahre alt. Diesen Sommer wurde er in eine psychiatrische Einrichtung in Iowa überwiesen, und dort starb er an verschiedenen … schweren Verletzungen. Die Autopsie hat kein
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