Muttersoehnchen
angefeuert. Sie hat Ökos, Anarchos, Realos, Bauern und Rechtsanwälte getroffen. Und Senioren wie Kinder. Ein fröhliches Volksfest, das von den Etablierten im Lande angeführt wurde. Viele von ihnen haben Erfahrung im Demonstrieren. Die liegt lange zurück, und sie waren jung, angetrieben vom Glauben an neue Ideen. Heute sind sie gereifte Wutbürger und wie damals auf Eskalation vorbereitet.
Anke fühlte sich gut, sie hat endlich wieder etwas Gutes und Richtiges getan, und ich musste nicht antworten, weil ich mich auf das Ein- und Ausatmen im Asthmaprogramm konzentrierte. Während ich pustete erinnerte ich mich daran, dass ich meinen AKW-Sticker weggeworfen hatte, als wir in unser neues Haus zogen und das Geld für Solaranlage und Zisterne hatten wir auch nicht mehr. »Aber ich habe nicht geschottert«, sagte Anke, »das ist ja strafbar. «
Um mich mitzuteilen, habe ich lange kein Flugblatt mehr verteilt und mir auch nicht die Nacht mit endlosen Diskussionen um die Ohren geschlagen. Ich brauche nur noch eine Tastatur. Second Life , die Online-Parallelwelt hat mich auch kalt gelassen, weil ich gerade selbst dabei war, in den kostenfreien sozialen Netzwerken mein eigenes Zweitleben aufzubauen. Als digitaler Einwanderer zuckte ich vor dem Fortschritt nicht zurück und versteckte unsere Renovierung, Kater Tom und die Kinder nicht mehr länger auf meiner Festplatte, sondern zeigte unser erfolgreiches, fröhlich-buntes Dasein unaufgefordert den 200 besten Freunden. Dass es allenthalben von Interesse ist, setzte ich voraus. Aber jetzt kam mein schlechtes
Gewissen in voller Größe zurück: Zu meinem Leben gehörte auch mal Brokdorf. Die Realität holte uns schneller ein, als wir dachten. Mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima im Frühjahr 2011 hat sich vieles verändert.
In Matthias Wohnung interessiere ich mich vorrangig für Lorelei_78 . Auf mein hartnäckiges Nachfragen verrät er mir, dass er gerade erst seit einer Stunde mit der Sofafrau in Kontakt ist. »Und dann zeigt sie dir solche Bilder?« Er nickt. Scheinbar wundert ihn nur meine Frage. »Warum tut sie das?«, bohre ich nach. »Weil die Schwarzer irrt. Frauen brauchen Sex genauso wie wir.« Also doch keinen Mr. Right für immer? Mein Freund widerspricht: »Doch, Frauen wollen alles, die eierlegende Wollmilchsau.« Ob er sich mit der kleinen Geilschnecke treffen mag, lässt er offen. Denn: »Eigentlich gefällt es mir nicht, wenn mir das Wild vor die Stoßstange springt.« Das überrascht mich jetzt, bislang dachte ich, Männer können nicht immer, aber eigentlich wollen sie immer.
Doch an dem Abend hält sich Matthias zurück. Er ist unpässlich, und außerdem bin ich da. Mich die Suppe allein löffeln zu lassen, um bei einem anderen Rock Witterung aufzunehmen, traut er sich hoffentlich nicht. Um Lorelei loszuwerden, wagt er sich vor. »Gib mir deine Nummer!« Die Antwort kommt sekundenschnell: »Wir kennen uns doch noch gar nicht.« Die junge Dame ziert sich plötzlich wie die Prinzessin auf der Erbse. »Dir kann doch nur Gutes widerfahren, so wie du aussiehst«, schmeichelt Matthias. Und als sie mögliche Gefahren eines Wechsels ins richtige Leben beschwört, beruhigt er sie. Von einer telefonischen Vergewaltigung habe er noch nie gehört. Trotzdem, Blondie zickt rum. Mein Freund kommt nicht zum Ziel, so sehr er sich auch ins Zeug legt. Mit Argumenten nicht, mit Lockungen nicht und mit seiner Telefonnummer schon gar nicht.
Matthias ist müde. Heute ganz besonders, aber auch sonst. Er würde jetzt gern dieses verquaste Jagen und Locken gegen bewährte Action à la Top Gun eintauschen. Lorelei_78 ist 32. Sie hat auch verraten, dass sie Jura studiert hat und seit einem Jahr bei einer Kölner Versicherung arbeitet. Ihr Motto lautet: Mir zu begegnen ist Glück, mich zu bekommen ein Sieg. Sie gibt an, dass sie einen Mann suche,
der gut situiert ist und durchtrainiert. Der soll sie nehmen, wie sie ist, und genügend Zeit für sie haben. Er soll sie halten, wenn es drauf ankommt, und walten lassen, wenn ihr danach ist. So steht’s geschrieben im Kleinmädchentraum eines Alphagirls des 21. Jahrhunderts.
Der elektronische Flirt lässt besonders viel Platz für Fantasie rund um unser Ich und schafft noch mehr Projektionsfläche auf den potentiellen Partner, inklusive freundlicher Entschuldigungen, wenn es doch nicht klappt. Die Gedanken sind frei, und die Hoffnung stirbt zuletzt: Wir träumen vom unverbindlichen Sex ohne Verletzungen und sehnen uns nach reiner
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