Muttersohn
Zustimmung erwartet oder gar verlangt, wohl aber Loyalität. Und deren durfte ich sicher sein, bis zu jenem Silvesterball. Ich habe Luzia seit dem kein einziges Mal mehr etwas schreiben lassen. Das war mir nach dem, was ich erlebt hatte, nicht mehr möglich gewesen. Sie muss das bemerkt haben und gibt sich seit dem ihrerseits kühler als je zuvor. Das Verhältnis ist zerstört.
Wenn man mehr recht hat, als man zur eigenen Rechtfertigung braucht, benützt man den Überfluss an Rechthaben dazu, andere zu verurteilen. Das ist Herr Dr. Bruderhofer.
Wenn man von einer Notwendigkeit durchdrungen ist, wird einem das Handeln leicht gemacht. Das bin nun ich.
Erstaunlich, keine Skrupel, auch keine Angst. Ich war barfuß. Das war überdeutlich in meinem Gefühl: das kannst du nur barfuß vollbringen. Konrad von Letzlingen, mein Patron. Ich war nicht einmal aufgeregt, als ich zwei Tage vor Christi Himmelfahrt nachts durch die Glockenstube in die Stiftskirche kam, am Altar ohne die Breitwieser’schen Bezeugungen vorbei die Sakristei erreichte, aufschloss, eintrat und mit Hilfe meiner Taschenlampe sofort den Schrein fand, in dem die Strahlenmonstranz mit der Reliquie bewahrt wird. Auch dafür hatte ich den Schlüssel. Breitwieser hat mein Interesse als Verehrung begriffen. War es ja auch. Da lag sie nun, die Monstranz, eingehüllt in Tücher und verschnürt mit einer silbernen Kordel. Ich nahm sie in meinen Arm. Was ich dabei empfand, teile ich nicht mit. Ich abstrahiere: Legitimität. Innigste Berechtigung. Ich rettete einen Schatz aus großer Not. So kann es einem zumute sein, der ein Kind aus einem brennenden Haus rettet.
Mit der Monstranz ging ich in die ehemalige Prälatur, also in mein altes Arbeitszimmer, das ich gegen den Umzug ins neugebaute Ärztehaus verteidigt hatte. Hochrangige Subversion, hatte es der Verwaltungsdirektor genannt. Aber da ich darauf hinweisen konnte, dass mein Vorfahr Eusebius Feinlein hier Abt gewesen war, musste ich zwar auch alles aktuell Geschäftliche hinüber in den Neubau verlegen, auch das Sekretariat natürlich, also Luzia Meyer-Horch und ihre zwei Subsekretärinnen, aber bis zu meiner Pensionierung darf ich in der alten Prälatur mein Außerdienstliches treiben. Sicher ist auch das ein Ärgernis für Dr. Bruderhofer. Aber dass mir dafür vom Regierungspräsidium eine Sondergenehmigung zuteilwurde, konnte er, weil er da noch nicht auf dem Kampfplatz erschienen war, nicht verhindern.
Ich legte das Heiligblut-Kreuz in den Schrank, in dem die Papiere für mein Reliquienbuch sich häufen. Ich befreite das Kreuz sogar aus seinen Tüchern, um es anzuschauen. Im Licht der Taschenlampe gleißte das Gold, blitzten die großen und die kleinen Brillanten und die vier Rubine oberhalb und unterhalb des Bergkristalls, auch links und rechts von ihm. In ihrem rötlichen Schimmer sehen sie mehr nach Blutstropfen aus als der dunkle Strich in dem Bergkristall, der das heilige Blut darstellt.
Ich konnte nicht so schnell aufhören, diesen ein bisschen vorgewölbten Kristall anzuschauen. Mit Längsschliffen wird die Wölbung des Kristalls erlebbar gemacht. Aber in ihm, der dunkle Strich, ist ganz gerade. Jahrhundertelang hatten meine Landsleute dieses in Gold bewahrte Ding verehrt und angebetet. Sie waren immer in Not. Die Reliquie war ihre Zuflucht. In der Verehrung und Anbetung dieses dunklen Strichs im goldgerahmten, von Edelsteinen umgebenen Bergkristall erlebten sie sich als Menschen. Erlebten sie ein Recht, das sie nirgends sonst hatten. Bei keinem Menschen, keiner Institution. Also glaubten sie. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.
Ich drehte das Kreuz um.
Was vorne die vier Rubine, sind hinten vier Smaragde. Grünlich gleißend. Der Bergkristall ist so eingelassen in das Kreuz, dass er von hinten genau so sichtbar ist wie von vorne. Da, wo der Kreuzbalken den Kreuzstamm quert, ist der mit Längsschliffen lebendig gemachte Kristall eingelassen. Mit dem Abtssiegel des Abtes Benedikt Mangold versehen. Im Jahr 1529. Und seit dem so bewahrt. Ich sah mich durchaus als Erbe dieses Abtes, der die Reliquie im Jahr 1525 vor den revolutionären Bauern gerettet hatte und mit ihr zwei Tage und zwei Nächte in einem Geheimgelass in der Wand, wahrscheinlich hoch erregt und angstvoll, gewartet hatte, bis die Bauern das Kloster verlassen hatten.
Als der Staat das Kloster schloss und alles seinem Verkaufswert nach taxiert wurde, hat man das Heiligblut-Kreuz mit 85 000 Gulden bewertet. Im Jahr 1805. Aber mein
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