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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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zurückkehrenden Paar lebhaftes Lob. Frau Dr. Breit und ich waren, weil wir zu keinem Tanz zu bewegen waren, spürbar mit einander verbunden.
    Dann also Dr. Bruderhofer. Nach dem Jahresumschwung kam er an unseren Tisch. Da ja die Silvesterbälle von Jahr zu Jahr mehr zu Kostümbällen wurden, war seine Aufmachung als Richard Wagner durchaus im Rahmen. Für mich war es ein Schlag. Wahnfried II , Eva Maria … da blitzen Jahrzehntebilder in einer Millionstelsekunde durch dich durch. Er war ja viel zu groß für Wagner, eins neunzig, also ein monströser Richard Wagner, aber eben ein Richard Wagner. Ein Barett aus rotem Samt. So schräg wie möglich aufgesetzt. Eine Samtjacke, natürlich auch tiefrot; die wird vorne mit goldenen Kordeln zusammengehalten. Und dann die gewaltige Schleife, ein edler Vulkan in mattem Rosa. Aber wenn er nicht auch noch von Ohr zu Ohr den Backenbart geklebt hätte, hätten wir gedacht: Da fehlt doch was! So aber fehlte nichts. Mich zerschlug’s. Ich hätte aufspringen sollen und rufen: Mein Name ist Bruckner, Anton! Dazu einen scherenschnittreifen Bückling. Er hätte es nicht verstanden. Ich hatte dem Wahnfried-Zwei-Theater nichts entgegenzusetzen. Nichts als Schmerz. Und wie dieser Wagner sprühte! Er war offenbar nicht auf dem Silvesterball, auf dem wir waren. Er hatte eine viel höhere Temperatur und eine Geschwindigkeit, gegen die wir ein Tisch der Abgestorbenheit waren. Nicht dass er schneller redete. Er redete größer. Gewaltiger. Hinreißender. Er hätte es sicher nicht ausgehalten, wenn er nicht in jeder Sekunde erlebt hätte, wie er alle, denen er sich zuwandte, mitriss. Der Ball war ein einziger Jubel. Sein Jubel. Und er wollte im neuen Jahr den ersten Tanz Frau Luzia Meyer-Horch widmen. Dieser Frau, ohne die die Klinik Scherblingen längst im Sumpf der Melancholie versunken wäre. Von dieser Frau geht ein Geist aus, eine Kraft, eine Belebung, eine Erleichterung, ohne die wir alle diesen so schönen wie schweren Beruf nicht schaffen würden. Liebe Luzia Meyer-Horch, wenn Sie jetzt sagen, Sie wollen mit mir nicht tanzen, dann weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Das ist eine Erpressung, ich weiß, denn Sie sind ja tagaus, tagein die vehementeste Glücklichmacherin in diesem Gelände, deshalb … Da war Luzia aufgesprungen und hatte ihn schon mitgerissen auf den Tanzboden. Dann aber kam erst die Schau. Luzia ist ja eher dünn. Und groß ist sie auch nicht. Sobald sie mit Dr. Bruderhofer auftrat, war sie eine halbe Portion. Dr. Bruderhofer, eins einundneunzig und mächtig, konnte in dieser leichten Person kein für alle Drehungen reichendes Gegengewicht finden wie an Helga Felgentreff. Wenn er sie, sie mit beiden Händen umfassend, so herumwirbelte, dass es sie weit nach hinten bog, war zu fürchten, sie breche gleich ab. Aber da hatte er sie schon losgelassen, hielt sie nur noch an einer Hand und schleuderte sie förmlich herum. Und sie flog, aber suchte immer wieder Bodenkontakt, immer wieder landend, Tanzschritte produzierend und wieder startend. Das meiste machte natürlich ihr Wuschelkopf am langen Hals. Und um den die Kette mit dicken roten Kugeln. Ob sie kreiste oder geschleudert wurde oder Solo-Tanzeinlagen lieferte, sie tat es ihrem Wuschelkopf zuliebe. Ihre Haare flogen weiter herum als sie selber. Und jeder im Saal wusste, Frau Meyer-Horch entwirft und näht alles, was sie anhat, selber. Um Hüften und Schenkel eng anliegend und erst an den Knien weit ausfallend eine Pluderhose. Und das auch noch in einer wilden Rotgrüngelbmischung. Was sie oben anhatte, in gleißendem Metallic, das war doch das Oberteil eines römischen Soldatenpanzers. Was ihr an den Ohren baumelte, machte sie zur Sklavin. Richard Wagner konnte sich bedienen. Niemand außer diesen beiden tanzte noch. Alle standen, saßen, schauten, klatschten.
    Ich hatte, als ich begriff, was da geschah, sofort ein Glas und noch ein Glas und noch eins ausgetrunken. Als die zwei zurückschlenderten an unseren Tisch und sich einträchtig wunderten über so viel Beifall, wo sie doch bloß ein bisschen mit einander getanzt hatten, da hatte ich sicher eine Flasche hinuntergezwungen. Ich konnte also aufstehen, konnte Luzia die Hände entgegenstrecken, ihr gratulieren und ihm auch. Und konnte sagen, eine so stürmische Harmonie sei das schönste Signal für das neue Jahr. So wie ihr zwei getanzt habt, so wollen wir das ganze Jahr mit einander tanzen!
    Dr. Bruderhofer war gerührt. Ich sah’s. Er hatte feuchte

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