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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Vorfahr Eusebius hatte das Kreuz schon vorsorglich der Kirchengemeinde Scherblingen übereignet, sodass der Kronschatz des Klosters vor der Stuttgarter Gier gerettet wurde. 85000 Gulden, das wären heute Millionen. Jetzt drohte der Reliquie längst eine viel höhere Gefahr. Die herablassende Duldung, mit der die Gebildeten, egal ob kirchlich oder weltlich, die Reliquie als ein Relikt behandeln, das nur noch Peinlichkeiten bereitet, wann immer es irgendwo genannt werden muss. Für Theologen eine Torheit, für den aufgeklärten Zeitgenossen ein Ärgernis. Das bisschen narrative Theologie klingt nach Fremdenverkehrsprospekt.
    Dann hüllte ich das Kreuz wieder in die Tücher, verschnürte es mit der silbernen Kordel und lag wach auf meinem unbequemen Biedermeier-Sofa. Wach nicht wegen des Sofas, wach vor Aufregung. Siege sind mir fremd. In dieser Nacht aber erlebte ich mich als Sieger. Zum ersten Mal. Jetzt weiß ich auch, wie sich das anfühlt, Sieger zu sein. Mir kann nichts passieren. Das ist das Siegergefühl.
    Das Kreuz, also die Monstranz, ist siebenundzwanzig Zentimeter hoch, der Kreuzbalken acht Zentimeter breit. Ich hatte alles abgemessen, um sicher zu sein, dass es in meiner Arbeitstasche bequem Platz hatte. Das war der Fall. So kam die Reliquie in meiner Tasche und in meinem Auto problemlos in mein Haus. Meiner griechischen Haushaltshilfe Kirki hatte ich vorsorglich freigegeben. Von Donnerstag bis Montag.
    Also konnte ich in Ruhe beobachten, was jetzt geschah beziehungsweise nicht geschah. Der Tag nach Christi Himmelfahrt ist der Tag, an dem die Reliquie jedes Jahr in einem Spektakel, genannt Blutritt, der Bevölkerung gezeigt und gewidmet wird. Zwischen tausend und zweitausend Reiter, Bauern aus der ganzen Gegend, reiten in Frack und Zylinder von sieben Uhr bis elf Uhr durch die Dörfer und Fluren. Mit Musikkapellen und Fahnen. In jedem Dorf mit Blumen prangende Altäre. Ein junger Mönch, den man sich aus einem noch existierenden Kloster ausleiht, reitet mit und segnet mit dem goldenen, edelsteinbesetzten Kreuz eifrig nach allen Seiten hin. Um elf wird die Reliquie im alten Klosterhof zurückerwartet, wird von einem Bischof in Empfang genommen, der zieht dann, seinerseits nach allen Seiten segnend, mit dem goldenen Kreuz in die Stiftskirche ein, wo er ein Hochamt zelebrieren und auch noch predigen wird, was er selber nicht glaubt, was aber das gläubige Volk glauben soll. Man darf das Spektakel wegen der reitenden Bauern rührend und schön finden. Alles, was die Kirche dazu zu bieten hat, ist eine Verlegenheit. Keiner dieser Bischöfe, keiner der geistlichen Herren glaubt daran, dass das im Bergkristall wirklich ein paar Blutstropfen Christi seien. Sie tun aber so, als glaubten sie. Ein Dr. Bruderhofer hält dieses Glaubenstheater für ein Verdummungsinstrument der Kirche. Das sagt er jedes Jahr, wenn im Klinik-Klostergelände der Blutritt Thema wird.
    Wissen, dass das Blut nicht echt ist, aber glauben, dass es echt sei, das wäre das, was die Reliquie zu einem unvergänglichen Schatz machen würde.
    Da bin ich wieder bei meinem Thema.
    Aber was passierte, als Andreas Breitwieser die Meldung erstattete: Das kostbare Kreuz ist gestohlen! Es passierte nichts. Der Blutritt fand statt wie jedes Jahr, gesegnet wurde mit einer Monstranz, die man sich wahrscheinlich aus einem der Klöster zwischen Donau und Bodensee ausgeliehen hatte. Jetzt hätte nur gefehlt, dass die Geistlichkeit bekanntgegeben hätte, man segne heute mit einer Ersatzmonstranz, das dürfe aber weder dem Glauben noch seinen Wirkungen einen Abbruch tun. Das wäre der Anfang gewesen zu einer neuen Glaubenspraxis. Diese Chance wurde versäumt. Und wenn ich die Reliquie nicht zurückgebe, wird der Ersatz geglaubt wie das Echte. Mehr kann ich nicht wollen. Wenn ich Mein Jenseits publiziere, werde ich die Reliquie zurückgeben. Dann wird bewiesen sein, dass es nicht wichtig ist, ob Reliquien echt oder unecht sind.
    Ich habe glauben gelernt.
    IN LIEBE . BIS BALD .

7.
    Dass es ernst ist, weiß ich, aber ich glaube es nicht.
    Der Anruf. Am Montagmorgen. Ich war noch zu Hause. Herr Breitwieser: Ob ich es schon gehört habe? Was gehört? Die Monstranz ist weg, gestohlen, die Heiligblutreliquie, das Millionending.
    Ich rufe: Nein! Das gibt es doch nicht.
    Doch, das gibt es. Und er wird verdächtigt. Fremdenlegion, Alkohol. Er hat Hausarrest. Und hat angeben müssen, dass außer ihm nur Pfarrer Weimer und Professor Feinlein Schlüssel haben. Also auf eine

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