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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Augen. Er umarmte mich wie noch nie und sagte: Herr Professor, darauf trinken wir. Nahm ein Glas vom Tisch, ich nahm mein Glas, alle an unserem Tisch nahmen ihre Gläser, auch an den anderen Tischen standen alle auf, es wurde der erste und einzige Toast auf diesem Fest. Dr. Bruderhofer sagte, er werde nie mehr in seinem Leben ohne Luzia Meyer-Horch tanzen, nie nie nie mehr. Und küsste sie innig links und rechts in ihr vom Wuschelkopf gerahmtes Gesicht. Und ging. Wir schauten ihm nach.
    Ich trank und rauchte und rauchte und trank. Ich musste mich davontrinken. Ich verlangte, dass alle an unserem Tisch mir jetzt sofort zuhörten. Liebe Luzia, sagte ich, ich heirate Sie. Bitte, kein Widerspruch. Ich bin nicht die schlechteste Partie in diesem Saal, in dieser Nacht, in diesem Jahr.
    Ich zog sie an mich und küsste sie. Nicht auf den Mund, aber heftig auf beide Augen. Alle nahmen’s als einen Scherz des betrunkenen Chefs. Frau Dr. Breit litt unsäglich. Das nahm ich noch wahr. Konnte aber nicht mehr bremsen. Bei meiner roten Fliege, ich schwör’s, rief ich und wollte mir die rote Fliege vom Hals holen und schaffte es nicht und bat Einaug Alfons um Hilfe. Der tat’s. Ich legte die rote Fliege auf den Tisch und sagte, dass Luzia und ich fünf Trauzeugen hätten. Und zählte sie auf. Dann wurde mir schwindlig. Ich sagte: Alfons, du bist der Pfleger des Jahres. Sorg dafür, dass ich, ohne überhaupt gesehen zu werden, aus dem Saal komme. Das war machbar. Alfons nahm mich unter seinen rechten Flügel, mit ihm und Dr. Häuptle alias Gevatter Tod kam ich hinaus, ohne Aufsehen zu erregen. Frau Dr. Breit hatte mir zuletzt noch einen furchtbaren Blick zugeworfen. Der Gevatter Tod und der schüchterne Vampir brachten mich heim. Heim zu mir. Mit einem Auto. Und fragten hundertmal, wie es mir gehe und so weiter. Ich winkte hundertmal ab. Offenbar hatte einer von beiden meinen Schlüsselbund in meinem Mantel gefunden. Ich lag auf dem Sofa im Studierzimmer. Ich bat beide zu gehen. Alles sei gut. Gut. Gut.
    Sie gingen.
    Als ich wieder zu mir kam, wusste ich, dass ich Luzia Meyer-Horch verloren hatte. Fast zwanzig Jahre lang war sie meine Sekretärin gewesen. Das ist ein Verhältnis, das sich niemand vorstellen kann, der es nicht selbst erlebt hat. Eine Intimität, die nicht ihresgleichen hat. Manche Chefs schlafen einmal mit ihren Sekretärinnen, um diese Intimität zu besiegeln. Das hatte ich immer für unzumutbar gehalten. Eine Beleidigung für beide. Luzia Meyer-Horch und mich verbindet eine Schicksalsverschworenheit, die keiner Bestätigungen bedarf. Bedurfte. Denn das alles war einmal. Dr. Bruderhofer kann Luzia in jeder beliebigen Sekunde an den Tanztriumph erinnern, und sie tut, was er will. Ich habe ihr in fast zwanzig Jahren keinen solchen Lebensglanz verschafft, wie es Dr. Bruderhofer durch diesen Tanz gelang.
    Dass das keine Einbildung von mir ist, kann ich seit dem jeden Tag sehen, beobachten, spüren. Ich habe Luzia nie dazu gedrängt, für mich Partei zu ergreifen gegen Dr. Bruderhofer. Das war doch gar nicht nötig. Aus allem, was geschah und nicht geschah, ergab sich unsere Gemeinsamkeit. Eine Gemeinsamkeit, die nur wir hatten, sie und ich. Das war einmal. Sie ist seit dem bemüht, es mir recht zu machen. Das kennt man ja. Sie hat seit diesem Silvester-Auftritt mehr als einmal beiläufig erwähnt, dass Dr. Bruderhofers Frau achtzehn Jahre älter sei als er. Achtzehn Jahre, Herr Professor! Das mag sich unsereiner lieber nicht vorstellen.
    Niemals hätte sie vor diesem, von Dr. Bruderhofer inszenierten Tanztriumph so geredet. Ich habe sie jedes Mal spüren lassen, dass mir an solchen Erwähnungen nichts liegt, ja, dass ich sie sogar für unangebracht halte. Früher hätte sie gemerkt, wie peinlich mir solche Erwähnungen sind. Auch wenn sie nicht weiß, warum, sie hätte die Peinlichkeit gespürt, hätte sich vielleicht sogar entschuldigt für ihre Bemerkung oder hätte – wie es zu ihr passt – einen Witz gemacht über sich selber. Sie sei eben für Peinlichkeiten zuständig, hätte sie sagen können, wenn sie gemerkt hätte, wie unangenehm mir solche Anspielungen sind. Lieber peinlich heraus als drinnen erstickt, hätte sie früher gesagt. Jetzt merkt sie überhaupt nicht mehr, wie mir zumute ist. Zumute in allem. Zumute überhaupt. Und jetzt erst erlebe ich, was das für ein Lebenselement war, unsere Vertrautheit, Vertraulichkeit, Verlässlichkeit. Ich werde nicht versuchen, sie zurückzuholen. Schon

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