Muttersohn
Befragung müsse ich mich schon gefasst machen. Er hoffe auf meine Hilfe. Nur ich könne ihm jetzt noch helfen. Dass er das Heiligtum nicht gestohlen habe, wisse niemand so sicher wie ich. Er bitte mich inständig.
Ich versprach, ihn aus jedem Verdacht zu befreien.
Dann rief ich, weil ich momentan ratlos war, Luzia an. Unpässlich heute. Was tun, also? Am frühen Nachmittag zwei Herren mit einem Durchsuchungsbefehl. Sie entschuldigten sich höflich. Es sei ihnen peinlich. Aber bei denen, die Schlüssel haben, müssten sie rein routinemäßig eine Hausdurchsuchung machen. Ich wehrte mich nicht. Als sie die Monstranz fanden, waren sie erstaunt, überrascht, frappiert. Ja, geschockt.
Also gleich die Befragung, Verhör wollten sie es nicht nennen. Ihnen war klar, dass irgendein Missverständnis passiert sein musste. Ergebnis: Die Reliquie landet in meinem Schrank. Ich würde, dessen waren sie sicher, alles erklären. Ich erklärte ihnen, dass ich keine Lust hätte zu lügen.
Und erzählte, wie sich seit Silvester alles verschärft habe. Dr. Bruderhofer hat den längst vorbereiteten Angriff endlich gestartet. Er hat mich förmlich eingekreist. Mir die Sekretärin entwendet. Die Ärzte den Abfall von mir beschwören lassen. Grund für alles: meine Reliquienforschung. Ich kann nicht zugleich Klinikchef und Reliquienforscher sein.
Erst dann habe ich mich gewehrt. Nicht mehr auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit.
Ich entführe die Monstranz in der Nacht vor Christi Himmelfahrt, am Tag danach das alljährliche Spektakel: der Blutritt. Die Geistlichkeit lässt die Gläubigen, die zu Tausenden den Weg der Pferdeprozession säumen, im Glauben, sie würden mit der Heiligblutreliquie gesegnet. Das war der Beweis, dass die Kirche selber nicht mehr an die Echtheit der Reliquie glaubt. Es kann mit jeder beliebigen Monstranz gesegnet werden. Es kommt darauf an, dass die Gläubigen glauben. Der Glaube der Gläubigen macht jeden verehrten Gegenstand zu einem Heiligtum. Den zehn- oder zwanzigtausend Gläubigen muss gesagt werden, dass sie es sind, die Wunder wirken. Die Menschen schaffen sich etwas, woran sie glauben wollen. Dadurch bekennen sie, dass es das, woran sie glauben, nicht gibt. Glauben, dass etwas sei. Glauben, an was es nicht gibt. Dass es sei. Warum glauben wir? Weil uns etwas fehlt. Ein Vorfahr von mir hat gesagt: Glauben heißt Berge besteigen, die es nicht gibt. Ich will Ihnen etwas sagen, was Sie begreifen. Gott. Ja? Gäbe es Gott, dann gäbe es das Wort nicht. Das Wort gibt es, weil es ihn nicht gibt. Ja? Si comprehendis, non est deus. Sagt mein Patron, der Sprachheilige Augustin.
Andererseits.
Hören Sie, bitte, genau zu.
Wenn es Gott nicht gäbe, könnte man nicht sagen, dass es ihn nicht gibt. Wer sagt, es gebe ihn nicht, hat doch schon von ihm gesprochen. Eine Verneinung vermag nichts gegen ein Hauptwort.
Oder Maria. Die Himmelskönigin. Mit dem Lilienzepter. Und sie hat dem Norbert persönlich das weiße Gewand überreicht. Darum gehen die Prämonstratensermönche in Weiß. Es darf doch etwas schön sein. Oder?
Ich schwieg.
Und ihr Leib, der den Urheber des Lebens geboren hat, sollte die Verwesung nicht schauen. Lauter solche Sätze gibt es. Mir sind sie angenehm. Glauben heißt die Welt so schön machen, wie sie nicht ist.
Es ist schön, etwas zu glauben. Auch wenn’s nie für lange gelingt. Manchmal nur eine Sekunde, und weniger als eine Sekunde. Aber eine Sekunde Glauben ist mit tausend Stunden Zweifel und Verzweiflung nicht zu hoch bezahlt. Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrigbleibt. Aber dann schon.
Auch wenn ich vor Nichtwahrgenommenheit zittere,
ich rufe nach dir und weiß, dass du es nicht hörst.
Und hörtest du es, verweigertest du dein Gehör.
Abwesenheit heiße ich.
Auch für mich.
Feierlich, nicht mehr zu sein.
Äußerlich bin ich mir geworden.
In allem Niedergehaltenen schläft die Sehnsucht, gerufen zu werden.
Ohne dich findet die Welt nicht statt.
Zum leeren Himmel beten. Fluchen liegt mir nicht.
Ich reiße mir die Zunge raus.
Nach dir rufend, wächst sie nach.
BIS BALD . IN LIEBE .
Der Jüngere der beiden schrieb mit, was ich sagte. Er stenographierte.
Ich hatte erkannt: Das ist meine Chance, mich mitzuteilen. Ich habe dem Stenographierenden praktisch diktiert.
Dann noch: Dr. Bruderhofer wird mein Nachfolger. Sobald Sie mich verlassen, gebe ich meinen Rücktritt bekannt. Die Klinik soll nicht leiden durch das Gerede, das jetzt produziert
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